Montag, 22. September 2025

Das Ende der Ehrfurcht

Ich stehe in einer historischen Bibliothek. Ein großer Bau, darin Klassiker der Literatur aus einer Vielzahl an Ländern. Auf Papier fixierte Kultur der Generationen. Buch an Buch, nach irgendwelchen Kriterien geordnet und zum Teil nur mit einer Leiter erreichbar. Unter den Augen des gestrengen Bibliothekars.

Das Ende der Ehrfurcht
Unermessliches Gut, von Tausenden Schriftstellern aufgeschrieben, jeder in seinem eigenen Stil, einem Genre zugeteilt, mal sachlich, mal phantasievoll, mehr oder weniger emotional. Jedes Buch eine eigene Geschichte, nicht nur die in ihr erzählte, auch die des Erzählers. Und dann die Ehre, in diesem Tempel der Kultur eingestellt zu sein.

Doch nicht nur hier. Digitalisiert sind diese Bücher auch in elektronischer Form zu haben. Sie sind in Nullen und Einsen binärisiert worden, haben keine Form und keinen Geruch mehr, keine mehr oder weniger vergängliche Geschichte, keine Einzigartigkeit mit einem Eselsohr auf Seite 70. Uniform, per Mausklick kopierbar, von KI analyiserbar.

Die gesamte Bibliothek, so beeindruckend sie auch hier vor mir liegt, geht in meine Hosentasche. Ein USB-Stick kann alle Inhalte aufnehmen, mehr noch, mit seinem Freund dem Computer kann er sie zusammenfassen, vergleichen, auf Knopfdruck katalogisieren und Bewertungen hinzufügen. Weltweit und ohne Wartezeit.

Und nicht nur die Zeremonie und der Weg vom kreativen Einfall über das Skript, den Verlag und die Veröffentlichung bis zur Aufnahme in dieses Archiv sind heute ganz anders, nämlich kürzer und schneller. Zusätzlich ist auch der Einstieg viel einfacher, jeder kann seinen Computer als Schreibmaschine, seinen Internetbrowser als Einstieg in die Veröffentlichung nutzen. Keine Qualitätssicherung, kein mühsamer Weg auf die Bühne oder in die Bibliothek.

Alles ist einfacher und schneller. Und wie beim Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage resultiert aus dieser Vereinfachung eine Vervielfachung der Produktion. Manchmal habe ich den Eindruck, nahezu jeder Deutsche hat schon mal ein Buch geschrieben, ein Schreibwerk erzeugt, das vielleicht sogar gedruckt und in ein Cover gebunden wird.

Die hohe Anzahl an Neuerscheinungen führt dann letztlich dazu, dass die übersättigten Leser sich auf das konzentrieren, was alle lesen, Bestseller-Listen stehen im Mittelpunkt. Einen kulturellen Wert, der sich aufzuheben und in eine historische Bibliothek aufzunehmen lohnt, muss man wie die Nadel im Heuhaufen suchen.

Während ich noch in der Bibliothek stehe und mir diese Gedanken mache, ist die Sonne fast vollständig untergegangen, in der Dämmerung und der stilvollen Beleuchtung kommen die alten Schätze noch besser zur Geltung. Habe ich hier ein schützenswertes Gut vor mir oder ein langsam verstaubendes Relikt aus einer zu Ende gegangenen Zeit?

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