Montag, 20. Juni 2022

Vorgeschichte und Vorurteil

Ich fahre beim Supermarkt vor, der Parkplatz ist voll, und dieser asoziale Idiot hat mit seinem dicken Schlitten gleich zwei Stellplätze belegt. Das ist ja mal wieder typisch, je größer die Autos, desto kleiner das Hirn oder die Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer. Wenn der Typ sich hier blicken lässt, dann werde ich ihm mal gehörig die Meinung sagen.
Die Sache ist klar, das Urteil ebenfalls. Nur – bei genauerer Betrachtung darf ich eigentlich nur die offensichtlichen Fakten beurteilen, die begleitende Geschichte entsteht nur in meinem Kopf. Wie sich nämlich herausstellt ist der Fahrer eine Frau, neben dem von ihr besetzten Parkplatz befand sich auf der einen Seite ein zu weit seitlich geparktes Auto und auf der anderen Seite kämpfte sich eine junge Frau mit Kind und Kinderwagen in ihr Fahrzeug. Von Rücksichtslosigkeit kann also keine Rede sein. Mein Urteil ist damit ein Vor-Urteil, die vermeintliche Entstehungsgeschichte eine komplette Fehleinschätzung.

Und so geht es weiter, ständig lege ich an irgendwelche Beobachtungen eine Messlatte an und kann dann sagen, was gut oder schlecht ist. Was ein Mitmensch falsch gemacht hat. Bedauerlicherweise fehlt die innere Bremse, das „Moment mal!“ oder grundsätzlich der kritische Umgang mit dem Richter in mir. 

Ein Hund aus dem Tierheim? Kommt nicht in Frage, wer weiß, was der schon alles erlebt hat. Ob er als Welpe geschlagen wurde, schlechte Erfahrungen gemacht hat. Die man möglicherweise zunächst gar nicht erkennen kann und die nur in ganz bestimmten Situationen ans Tageslicht kommen. Was zum Beispiel, wenn er ausrastet, sobald er einen bärtigen Mann mit Brille sieht (weil der ihn immer gequält hat)?
Ich weiß es natürlich auch nicht, aber gehe ich so nicht nur bei der Hundeauswahl, sondern auch bei der Partnersuche vor? Frage ich das Mädchen neben mir, ob es eine schwere Kindheit hatte und immer von einem Glatzkopf gehänselt wurde?

Wir kennen – das ist die Botschaft – nie alle Aspekte und in den wenigsten Fällen die komplette Vorgeschichte. Obacht also, bevor wir ein hartes Urteil sprechen. Denn weder sind wir alle geborene Richter, noch wird zu jeder Aussage im Vorfeld mit Zeugenbefragung verhandelt. Vielmehr gestaltet sich der Alltag mit Situationen, in denen wir uns positionieren, ohne ein „gerechtes“ Urteil sprechen zu können.

[Andere Blogs: Interdisziplinäre GedankenFeingeistiges]

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