Montag, 31. Oktober 2022

Oldtimer: I'm in Love With My Car

Gerade bei Menschen, die sich im Laufe der Jahre fast jeden Wunsch erfüllt haben erlebe ich häufig eine ausgeprägte Freude an Oldtimern. Da bekommen Mitfünfziger leuchtende Augen, Frührentner geraten ins Schwärmen und Greise geraten noch mal richtig in Fahrt. Was wohl dahinter steckt?

I'm in Love With My Car
Ein Freund erzählte mir jüngst, dieses urtümliche Fahrerlebnis sei der Kern seiner Leidenschaft. Man fühlt noch die Straße, erfährt körperlich jede Unebenheit der Strecke, Bremsen ist Entgegenstemmen und Lenken ein Kraftakt. Keine Helferlein wie Servolenkung, Bremskraftverstärker, Stabilisatoren und Federungsadaptoren, nein, Autofahren als Erlebnis mit allen Sinnen.

Ach, möglicherweise ist es aber eher die Freude an der Pflege. Das alte Vehikel kann man hegen und streicheln, sich liebevoll um Ersatzteile bemühen, mit anderen Autovätern Kontakt aufnehmen. Der legitime Nachfolger für Kinder, auf den die Partnerin noch nicht mal wirklich eifersüchtig sein kann. Es ist ja nur ein Auto, das man liebt.

Oder ist es doch eher noch mal jung zu sein, die Suche nach dem Abenteuer, wenn man mit dem altersschwachen Käfer über die Landstraße gebrettert ist. Die schönste Zeit war doch die Kameradschaft beim Bund, die Zelturlaube mit der Clique; Und eben auch die Erlebnisse auf der Rücksitzbank im Ford Capri. Was dann immer komfortabler wurde mit gigantischen Events und Kreuzfahrten, nur so lustig war es nie wieder. Auch beim Auto nicht.

Für den, der alles hat, sagt mein Freund, und für jeden Geldbeutel. Für Bastler genauso wie für Sonntagsfahrer. Nur die tägliche Nutzung, die ist doch eher die Ausnahme. Zum einen, weil man sein Schätzchen damit überstrapaziert, zum anderen, weil es eben doch eher eine Sondersituation ist. Da ist man nach dem Wochenende dann doch froh, wieder im modernen SUV zu sitzen.

Montag, 24. Oktober 2022

Auch in der Drehtür immer geradeaus

Auch in der Drehtür immer geradeaus
Ich lasse mich ja auch manchmal verführen. Durch die Halle laufe ich auf die Drehtür zu, die den öffentlichen Teil vom Bürogebäude trennt. Langsam drehen sich die Flügel, ich passe einen günstigen Moment ab und betrete den runden Bereich. Und genau jetzt bin ich versucht, der rotierenden Glasscheibe in einem Kreisbogen zu folgen statt einfach nur langsam geradeaus vorwärts zu gehen. Ich schaue auf den Boden und stelle fest, dass ich die Rotation gar nicht mitmachen muss, sondern mit reduzierter Geschwindigkeit meinen eigenen Weg in gerader Richtung fortsetzen kann.

Bin ich da ein bisschen Lemming? Immerhin bin ich durch die Halle ja auch nicht in Schlangenlinien gelaufen, habe den direkten Weg gewählt. Nun auf einmal sehe ich die Drehbewegung und schon meine ich, ihr folgen zu müssen, ganz unbewusst.

Bei der Sitzung vorhin ist es mir eigentlich ähnlich gegangen. Meine Gedanken waren ganz strukturiert, ich war gut vorbereitet und hatte mein Datenmaterial in der Mappe dabei. Aber kaum ging die Besprechung los, waberte die Unterhaltung zwischen den Themen hin und her und ich begann ihr zu folgen. Wie der Drehtür.

Dabei hätte ich doch einfach meine gedankliche Geschwindigkeit verringern und mich mit ein paar freundlichen Worten auf die laufenden Gespräche einlassen können, um dann unbeirrt meine Überlegungen und Argumente vorzubringen.

Wobei ich wie bei der Drehtür natürlich nicht unvermindert voranschreiten kann, denn dann würde ich gegen die Scheibe prallen beziehungsweise die anderen Sitzungsteilnehmer geistig abhängen. Nur ist eben die Geschwindigkeit das eine, die Richtung das andere. Es kommt also darauf an, sich hier nicht beirren oder von einem bewegten Umfeld ablenken zu lassen.

Montag, 17. Oktober 2022

Wie die Beeren in der Traube

Morgens zum Frühstück gibt es Trauben (als Ergänzung zum Joghurt). Und beim Einkauf dieser Tage habe ich eine dunkle Sorte mit besonders aromatischen Beeren erworben. Jede dieser Früchte ist eine kleine Delikatesse, einziges Manko: Sie lösen sich nur widerspenstig vom Stiel. Man muss jede einzelne Beere greifen und vorsichtig abziehen. Aber das Geschmackserlebnis entschädigt für diese kleine Mehrarbeit, der Genuss ist mir wichtiger als die einfache Vorbereitung. Also versuche ich auch nächste Woche wieder diese Sorte zu bekommen (auch wenn die grünen Trauben leichter abgehen).

Wie die Beeren in der Traube
Übrigens kennen wir das auch von politischen Parteien. Da kann man auch nur ein zusammenhängendes Paket wählen. Da ist dann bei Partei X zwar die Wirtschaftspolitik überzeugend, aber die Aussagen zur Gesundheitspolitik sind mir nicht so recht. Zusammen mit ihrem Antritt zur sozialen Sicherung passt es mir aber insgesamt doch besser als Partei Y, die mit ihrer außenpolitischen Strategie so gar nicht meinen Grundsätzen entspricht.

Ich wähle also – sowohl bei den Trauben (Vorrang für den Geschmack) also auch bei Parteien (Vorrang für Wirtschaft und soziale Sicherung) – eine Kombination von Eigenschaften. Diese Kombination kann ich nicht beeinflussen, ich muss die aus meiner Sicht beste Zusammenstellung wählen. 

Die Entscheidung kann man grundsätzlich sehr strukturiert angehen, z. B. Checklisten und Bewertungen für sich erstellen, Entscheidungsmatrizen oder vorbefüllte Bewertungen (z. B. Wahl-o-mat) nutzen. Am Ende ist entscheidend, möglichst alle relevanten Qualitäten zu sehen und für sich selbst individuell zu priorisieren.

Bei den Lebensmitteln ist das noch recht einfach (nur wenige relevante Parameter), beim Parteiprogramm herrscht zumindest theoretisch eine gewisse Transparenz. Viel schwieriger wird es aber bei so komplexen Systemen wie den Menschen um mich herum. Sie haben nicht-abzählbar viele Stärken und Schwächen, die sie mehr oder weniger gesteuert darstellen oder verbergen. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass ich erst mal für mich herausbekommen muss, welche dieser Seiten für mich eine Rolle spielen und welche nicht.

Ziehe ich den handwerklich geschickten Kameraden vor, der kaum einen fehlerfreien Satz über die Lippen bekommt? Oder doch lieber einen brillanten Redner, der aber im Haushalt nicht anpackt? Und so weiter.

Was man aus diesen Überlegungen ableiten sollte:
1. Jeder Mensch hat diverse Eigenschaften, Qualitäten, Stärken, Schwächen.
2. Bei den meisten Eigenschaften obliegt es mir, diese als gut oder schlecht einzuschätzen, für mich erwünscht oder unerwünscht, vielleicht hilfreich oder gar nützlich.
3. Ich kann meinen Mitmenschen nur als zusammengesetztes Individuum haben. Dazu gehören zwangsläufig auch von mir eher ungeliebte Seiten.
4. Der Mitmensch verändert sich im Laufe der Zeit, die Zusammensetzung seines Charakters bleibt meist grundsätzlich gleich, aber das Mischungsverhältnis kann wechseln.
5. Ich selbst entwickle mich mit der Zeit; meine Ansprüche, meine Werte und Priorisierung bleiben zwar oft grundsätzlich erhalten, aber die Skalierung kann sich verändern.
6. Wir neigen zur kognitiven Verzerrung, also Überzeichnung von objektiv wahrnehmbaren (positiven, aber auch negativen) Eigenschaften: Wir „steigern uns" in eine Beurteilung.

Fazit: Kaum ein Mensch ist rundum schlecht, aber auch keiner rundum gut. Das Gute am Gegenüber zu schätzen, Veränderungen mitzutragen und zu verstehen, dass jede Medaille zwei Seiten hat, erleichtert ein konstruktives Miteinander. Und wenn jemand plötzlich nicht mehr zu mir passt – liegt das mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit an mir selbst.

Montag, 10. Oktober 2022

Ich bin so viele Ichs

Es gibt zahllose Ansätze, die Vielfältigkeit des menschlichen Charakters darzustellen. Zweifellos sind wir Individuen, also sowohl körperlich als auch seelisch unterschiedlich. Und wie wir Menschen so sind, versuchen wir dafür Bilder zu finden. Da gibt es zum Beispiel Vorschläge, dass man eine Person als gewichtete Zusammenstellung verschiedener Eigenschaften sieht. In einem anderen Modell wird die Analogie zum Theater bemüht, in unserer inneren Bühne gibt es allerlei Schauspieler und einen Regisseur. Oder eine Sammlung innerer Stimmen, die mal laut, mal leise Statements und Anweisungen von sich geben.

Ich bin so viele Ichs
Wie auch immer man diese Vielfalt vermittelt, entscheidend sind die Mischung der einzelnen Bestandteile und deren Zusammenwirken. Und für mich dann noch die Frage, ob es Komponenten gibt, die unabhängig vom individuellen Charakter in jedem Menschen mehr oder weniger vorhanden sind.
Tatsächlich gibt es diese Basis, auf unterster Ebene als Triebe bezeichnet (übrigens auch wieder ein Bild, diesmal aus der Botanik). Unser tief verwurzeltes Streben nach Überleben, Ernährung und Fortpflanzung ist unabhängig von Rasse oder Kultur. Daneben – leider weniger beachtet – unser Drang nach Produktivität. Wir wollen tatsächlich etwas hinbekommen, vorantreiben, schaffen. Das ist nur in zweiter Linie eine Frage des Fleißes, vielmehr ist es ein Zwang, dem wir unterworfen sind.

Eines meiner vielen Ichs ist also die Schaffenskraft, und die will natürlich im Hintergrund auch wahrgenommen und gemanagt werden. Geschickte Steuerung führt zu erfolgreichem Handeln und in direkter Linie zu einem Zustand, der landläufig als Glück bezeichnet wird. Handwerker kennen den Stolz auf ein selbst gefertigtes Werkstück, aber auch am Schreibtisch ist die Zufriedenheit mit einem wohlgelungenen Foliensatz ein gutes Beispiel.

Da gibt es also in jedem Menschen eingebaut eine Kraft, die ihn nach vorne zieht. Manchmal ist das gar nicht so offensichtlich zu erkennen, zu vordergründig sind andere Ichs auf der Bühne und lenken die Zuschauer (unter anderem die Mitmenschen) ab. Das darf aber nicht daran hindern, im Sinne des Selbst-Managements auch diese urwüchsige und in jedem Menschen vorhandene Kraft bewusst einzusetzen. Und zwar gemäß dem Grundsatz „Power is nothing without control

Montag, 3. Oktober 2022

Gute Nacht für Realisten

Fangen wir mal ganz vorne an. Als wir noch jung waren, Säuglinge eben. Da wurde der Schlaf eingeleitet durch sanftes Schaukeln und vielleicht ein Wiegenlied. Bei kleinen Kindern ging das dann zum Vorlesen aus dem Bilderbuch oder gemeinsamen Beten über. Später eine Gute-Nacht-Geschichte und spätestens mit den Vorboten der Pubertät das Ablegen dieser kindlichen Riten.

Zu Unrecht, denn der gezielten Beschäftigung unseres Gehirns vor dem Wechsel in den Schlafmodus kommt große Bedeutung zu. Wir können zwar nur sehr eingeschränkt beeinflussen, ob wir mehr oder weniger bewusst träumen. Aber wir können durchaus steuern, mit was sich unser Gehirn beschäftigt, während es sich unbeaufsichtigt fühlt.
Ein zu später Stunde intensiv konsumierter Spielfilm im Fernsehen kann bis in den Schlaf nachklingen. Auch ein interessantes Buch oder die Beschäftigung mit einer kniffligen Aufgabe verfolgt uns bis in die Bettstunden. Und mit Übung lässt sich sogar ein Effekt über die Nachtstunden hinaus erzielen. Wie aktiv unser Denkapparat auch in den dunklen Stunden ist, erkennt man an dem oft empfehlenswerten Antritt, „erst mal drüber zu schlafen“.
Damit ergibt sich ein an und für sich bekannter Hebel, um seine Gedankenwelt merklich zu steuern und das Gehirn auch nächtlich für uns arbeiten zu lassen. Sorgen lassen sich bis zu einem gewissen Grad dämpfen, wenn wir während des Einschlafens gezielt positive Impulse setzen. Geben wir unserem Gehirn die Entschlüsselung eines komplexen Gedichts als Nachtaufgabe, kann es sich in der Zeit nicht mit dem Ärger im Büro beschäftigen.

Gute Nacht für Realisten
Quintessenz ist also, dass Gute-Nacht-Geschichten nicht so heißen, weil sie süß und romantisch sind, sondern weil sie ein gutes Mittel für das Management unserer Traumwelt sind. Auch der nüchternste Realist träumt, vielleicht nicht vom endlosen Kuss beim Sonnenuntergang im Kornfeld, aber auch die Beschäftigung mit den Quartalszahlen einer Aktiengesellschaft kann in die Nachtverarbeitung gegeben werden.
Was für uns in den Kindertagen ein probates Mittel war, können wir reaktivieren, kultivieren, optimieren und den gezielten Einsatz trainieren.