Montag, 28. April 2025

Das Geständnis des Dr. M.

Vor ein paar Jahren, so berichtete mir Dr. M., habe er in einem Vortrag gesessen. Ein versierter Kollege habe interessante Gedanken zu seinem Fachgebiet ausgebreitet und die Darstellungen mit Beispielen, Bildern und kleinen Filmeinblendungen sehr lebendig aufbereitet.

Trotz dieser kurzweiligen und spannenden Präsentation war seine Laune immer schlechter geworden. Das Publikum war angetan, um nicht zu sagen begeistert, klatschte immer wieder Beifall und bedachte den Referenten mit Anerkennung und Lob.

Die anschließende Diskussionsrunde, Fragen aus dem Auditorium, auch Nachfragen vom Moderator ließen keinen Zweifel an der Kompetenz und Sattelfestigkeit des Vortragenden aufkommen. Mit Abschluss des offiziellen Teils eilten zahlreiche Zuschauer nach vorne, schüttelten dem Redner die Hand und demonstrierten ihre Begeisterung für seine Gedanken.

Derweil wurde die Laune von Dr. M. immer schlimmer, geradezu miserabel. Er hielt sich an seinem Weinglas fest, sprach eher abwesend mit irgendeinem anderen Gast und ließ den Vortrag innerlich noch einmal an sich vorbeiziehen. Nein, der Inhalt war tadellos, die Formulierungen einwandfrei, keine unangemessenen Vergleiche oder wackeligen Thesen. Nein, es gab wirklich nichts auszusetzen an dem Abend, noch nicht einmal Selbstherrlichkeit oder Arroganz konnte man an irgendeiner Stelle attestieren.

Das Geständnis des Dr. M.

Und dann fiel bei ihm der Groschen. Es war gar nicht der Inhalt und im Grunde auch gar nicht der Vortragende, der seine Laune so getrübt hatte. Es war der blanke Neid. Wie gerne hätte er auf der Bühne gestanden, wäre bejubelt worden, hätte selbst kluge Gedanken präsentiert und die Zuhörer in seinen Bann gezogen. Wäre beachtet worden, hätte begeistert und ein positives Feedback zurückbekommen.

Aber all das war nicht passiert. Nicht, dass er es dem Redner missgönnt hätte. Er wäre nur gerne an seiner Stelle gewesen und hätte einen Lorbeerkranz aufgesetzt bekommen. Dieses schöne Gefühl, dass Menschen einem zuhören, zustimmen, den Überlegungen folgen und sich auf gleiche Gedanken einlassen.

Genau das erzählte mir Dr. M. bei einem Kaffee, den wir am Rande einer Schulung zu uns nahmen. Die Szene habe ihm klar gemacht, dass man sich manchmal selbst gar nicht erkenne und gelegentlich überrascht wäre, wenn man sich sozusagen selbst auf die Schliche komme. Wie leicht hätte er die Schuld auf den großen Referenten wälzen, ihn unzutreffender Weise der Hochnäsigkeit oder Arroganz geißeln können.

Seitdem frage ich mich auch manchmal, wie dieses oder jenes Gefühl in mir zustande kommt. Und stelle dabei voller Entsetzen fest, dass auch in meiner dunklen Seele das eine oder andere Mal der pure Wunsch versteckt ist, auf dem Treppchen zu stehen und mit einer Medaille vor der Brust bejubelt zu werden. Oder in irgendeiner anderen Art neidisch bin oder eigentlich gerne tauschen würde.

[Bild: Marco Verch, ccnull.de]

Montag, 14. April 2025

Woher kommen eigentlich diese lustigen Videos?

Woher kommen die lustigen Videos
Von Zeit zu Zeit kursieren in den einschlägigen Netzwerken irgendwelche verrückten Videos, bei denen ich mich frage, wie sie eigentlich zustande gekommen sind. Irgendein Zeitgenosse, der mit dem blanken Schraubenzieher in der Elektroverteilung herumstochert, die daraufhin spektakulär abfackelt. Oder wie eine süße Tarantel erst auf der Stirn sitzt und dann ganz unvermittelt ins Gesicht beißt.

Und heute: Ein Fahrgast, der lautstark seine dienstlichen Telefongespräche führt, vernehmlich lacht, mit seinem unsichtbaren Gesprächspartner Witze austauscht und auch gleich noch Börsenkurse, Wetterberichte, Sportergebnisse und Familiendetails erläutert. Es fehlt nur noch, dass er in seiner Begeisterung einem anderen Fahrgast auf dessen Bein oder Schulter schlägt.

Vielleicht ist der ganze Wagen gar nicht so hochgradig neugierig, wie es weitergeht, lauscht auch nicht voller Interesse seinen Ausführungen. Und ich kann der Frau neben ihm ansehen, wie sich die Miene immer weiter verdüstert. Gleich, da bin ich mir sicher, wird sie ihn mit ihrer Handtasche schlagen.

Jetzt wäre der Moment, mein Handy zu zücken und verdeckt mitzufilmen, wie sich die Szene weiterentwickelt. Wie die unbekümmerte Rücksichtslosigkeit zu aufgestauter Wut und schließlich bei irgendeinem Mitreisenden zu blanker Körperlichkeit ausartet. Wenn ich jetzt die Kamera aktiviere, bin ich der Held, der nachher das lebensnahe Video ins Netz stellt.

Aber ich mache es nicht, und das ist gut so, denn im Moment springt unser tönender Frohsinn auf, schnattert und lacht weiter in sein Telefon und ist in wenigen Schritten an der Tür. Im Hinaustreten hinterlässt er uns noch den Anfang einer Anekdote mit seinem Chef, aber nach den Gesichtern der Fahrgäste zu urteilen bin ich ziemlich sicher, dass niemand das Ende hören möchte.

Montag, 7. April 2025

Es geht weiter, nur anders

Eine Weisheit der Dakota-Indiana lautet: Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab!

Es geht weiter nur anders
Da hinten war doch immer ein Gasthaus. Eine Kneipe, in der morgens die Penner, mittags die Schöppchen und abends die Skatspieler einkehrten. Hinter der Theke noch die Treppe runter zur Kegelbahn, mal mehr, mal weniger lautstark besucht. Einmal im Monat kam aus dem Nachbarort ein Musiker, baute seine elektronische Orgel auf und spielte Evergreens zum Tanz. Für manche Bewohner der Höhepunkt im Kalender.

Heute muss man schon genau hingucken, tatsächlich gibt es noch die dreistufige Treppe zu einem kleinen Podest, Tür mit bunten Fensterchen drin und daneben ein kleiner Stahlkasten mit der Karte, heute leer mit ein paar kleinen Elektrokabeln für die ehemalige Beleuchtung. Die ausgeschenkten Biersorten, der Klare, ein paar einfache Gerichte und natürlich der Termin für die nächste Musik waren hier ausgehängt.

Auf der Fassade noch der Schatten, wo mal das Wirtshausschild hing, "Zum kühlen Grund" oder so ähnlich, ich habe es tatsächlich schon vergessen. Aber die Zeiten sind vorbei, das volle Haus, die turbulenten Tanzabende, die Thekensteher und politisch Engagierten: Sie sind weg. Ich frage mich, wo jetzt getrunken wird, wo Skat geklopppt wird, was aus den Kegelvereinen geworden ist. Ist die Geselligkeit einem "trauten Heim, Glück allein" gewichen? Und kann Social Media das tatsächlich ersetzen?

Nicht nur an dieser Stelle manifestiert sich, dass selbst in wenigen Jahrzehnten aus blühenden Landschaften eine verkümmernde Steppe werden kann. Lokale Gastronomie stirbt aus, aber sie nimmt auch gleich die restliche Nahversorgung, die Treffpunkte und die Kontaktmöglichkeiten mit in den Tod. Hier und da noch ein Sportverein, in dem die älteren Semester ihre Yoga- und Gymnastikkurse besuchen. Für die Bepflanzung des Dorfbrunnens fühlt sich niemand mehr zuständig, die Straßenreinigung musste die Gemeinde gegen Gebührenerhebung in die Hand nehmen.

Vieles, was früher von Gemeinschaften getragen wurde, was gemeinsam nicht nur geleistet, sondern auch entschieden wurde, ist nun als Dienstleistung übergeben, für den vermeintlichen Komfort scheint Geld da zu sein. So verschiebt sich das nachgefragte Produktportfolio von der Bereitstellung von Gemeinschaftserlebnissen zu der Bereitstellung von Bequemlichkeit. Wer will schon in nächtelangen Diskussionen die Verwendung der spärlichen Einnahmen und Spenden festlegen, wenn er sich für ein paar Euro aus der Verantwortung kaufen kann.

Die Kunden sind nicht ausgestorben, es wird sogar mehr Geld für Konsum ausgegeben als je zuvor. Aber das Geld fließt in andere Kanäle, die Konsumenten verlangen nach anderen Produkten. Es geht uns gut, da steht nicht mehr der monatliche Tanzabend im Mittelpunkt, sondern die Frage nach dem Clubabend on demand: Ich habe jetzt Lust darauf, dann fahre ich eben mal schnell hin. Ich reise zum Besonderen, weder muss ich warten, noch gehe ich davon aus, dass das Besondere zu mir kommt.

Überhaupt wird mit dem Warten völlig anders umgegangen. Statt auf den monatlichen Einkaufsbummel in der Stadt hinzufiebern oder auch nur Einkäufe und Bedarfe zu einem Trip zu sammeln, wird das Internet bemüht, sofort bestellt, im Nu geliefert. Und an anderen Stellen kann man das Warten durch die Aufnahme von Krediten verkürzen. Niemand spart mehr auf ein neues Auto, wenn er es über eine Finanzierung direkt fahren kann. Der kleine Aufpreis ist die Umgehung der Wartezeit allemal wert.

"Geiz ist geil" war mal ein Slogan, der mächtig Furore gemacht hat. Das ist eher einem "Komfort ist geil" gewichen, oder vielleicht sogar einem "Ich bin geil". Beim Feiern seiner Einzigartigkeit, der kaum noch zählbaren Selfies und dem egozentrischen Außenauftritt ist kein Platz für Nachbarschaft, keine Zeit für Geselligkeit, kein Impetus zu sozialem Engagement. Diesen Kunden verkauft man am besten das Gefühl, den maximalen Komfort erhalten zu haben. Das steht ihnen nämlich zu.

Hier endet die Nostalgie. Es hat keinen Sinn, den alten Zeiten hinterherzutrauern, auch wird es keinen Erfolg haben, diese in irgendeiner Form wiederbeleben zu wollen. Die klassischen Kegelvereine sind tot, der traditionelle Tanzabend ein Auslaufmodell. Wer hier investiert, ist reaktionär unterwegs und darf sich nicht über Fehlschläge und Misserfolge wundern. Wie in allen anderen Sparten ist das Leben auch hier Veränderung, man muss mit der Zeit gehen, die Menschen im Sine von Kunden da abholen, wo sie sind.

Gerade haben wir uns noch Gedanken über die geänderten Bedürfnisse gemacht, auch einen Blick auf die Ströme geworfen. Was machen denn die Personen, die früher voller Begeisterung ihre Schnitzel mit Pommes an der Kegelbahn konsumiert haben? Und wird das Tanzbein noch geschwungen, nur an anderer Stelle? Oder müssen wir genauer hinschauen und die zugrundeliegenden Bedarfe verstehen, also zum Beispiel den Wunsch nach körperlichem Kontakt und unverbindlichem Kennenlernen?

Zugegeben wird es hier schwierig, denn man kann nicht einfach 1:1 umziehen. Möglicherweise teilen sich nämlich die bis dahin zu einer Gemeinschaft gehörenden Menschengruppen auf. Ein Teil hottet vielleicht am Wochenende im Club, während ein anderer zum Zumba-Kurs im Fitnessstudio wechselt. Wer sich analytisch mit dem Thema beschäftigen muss oder möchte, kann also wie bei Völkerwanderungen Grafiken erstellen und versuchen, in Kombination mit Zahlen und Befragungen die Entwicklungen mitzuverfolgen und bis zu einem gewissen Grad vorherzusehen.

Nur die alte Kneipe, die sollte man nicht mehr in Betrieb zu nehmen versuchen.

Montag, 31. März 2025

Und läuft und läuft und läuft

Und läuft und läuft und läuft

In den 1960er Jahren galten Laufleistungen von 100.000 Kilometern für ein Auto bereits als beachtlich. Der VW Käfer mit seiner robusten Technik erreichte in dieser Zeit in manchen Fällen 200.000, vereinzelt sogar 300.000 Kilometer, was damals als sensationell galt. Eine Leistung, die zu der Werbekampagne "Und läuft und läuft und läuft" führte.

Rund 60 Jahre später ist diese Leistung zwar immer noch beachtlich, aber bei weitem keine Sensation mehr. Die meisten aktuellen Autos sind ähnlich lange auf der Straße wie damals die Ausnahmefahrzeuge. Die Messlatte hängt höher, und das nicht nur bei Premiummarken, sondern flächendeckend auch bei billigen Fahrzeugen. Begleitend ist meist aufwändigere Technik im Einsatz und die Erwartung der technischen Überwachung hoch.

Diese Entwicklung beobachtet man in allen möglichen Zusammenhängen, also der Technik, der Arbeitswelt und auch bei Menschen. Vieles wird bei steigender Leistung preiswerter, der Arbeitstakt nimmt zu und die Lebenserwartung steigt. Alles läuft, selbst das, was vor ein paar Jahren noch in ruhigem Schritt gegangen ist.

Längst ist der VW Käfer abgelöst von Vierrädern, die nicht verschrottet werden, weil sie verschlissen sind, sondern weil sie nicht mehr gefallen. Und die Frage nach der Laufleistung wird heute wohl in keinem Autohaus mehr gestellt. Auch wenn an manchen Fronten das Schlagwort "Nachhaltigkeit" eine große Rolle spielt, ist die Haltbarkeit gar nicht so relevant. Was unmodern ist, wird entsorgt; Um die kurzen Zyklen zu vertuschen, wird nach Recycling verlangt und damit auch die Verantwortung für Nachhaltigkeit im Sinne einer langlebigen Nutzung abgewälzt.

Und wir Menschen? Auch hier ist die Lebenserwartung gestiegen, die Erwartung erhöht. Wer in der Partnerschaft nicht mehr gefällt wird ersetzt. Tugenden wie Treue und Verlässlichkeit sind deutlich in den Hintergrund getreten, da eine Trennung als eine Art der Modernisierung empfunden wird. Ein neuer Partner bringt frischen Schwung, den man sonst mühsam selbst erarbeiten müsste.

Nur Nostalgiker oder Oldtimer-Liebhaber kaufen heute noch einen originalen VW Käfer. Und vielleicht gibt es auch bei den Partnerschaften nur noch Idealisten, die den Passus mit der Ende-Bedingung ("bis der Tod uns scheidet") ernst nehmen.

Montag, 24. März 2025

Stichwort: Frust

Da feile ich an meinen Formulierungen, lasse mir wissenswerte Dinge durch den Kopf gehen und verknüpfe sie mit Anekdoten, persönlichen Erlebnissen und Informationen aus der Wissenschaft. Und erreiche damit eine treue Leserschaft, die ich sehr zu schätzen weiß. Ihr zu Liebe suche ich unermüdlich nach Neuigkeiten, schürfe ich im Alltag nach sprachlichem Gold und male in allerlei Farben die schönsten Sprachbilder.

All das ist wunder-voll, lesens- und liebens-wert. Wie merk-würdig fühlt es sich da an, wenn ich aus einer mehr oder weniger spontanen Laune heraus eine Bewertung über ein am Wochenende besuchtes Hotel verfasse und im Internet veröffentliche. Nichts Böses ahnend - ist das Feedback doch sehr wohlwollend - denke ich nicht weiter darüber nach, will fast sagen, habe diese spezielle  Veröffentlichung eigentlich vergessen.

Stichwort: Frust
Und dann bekomme ich Post von Google, in der ich gelobt werde, weil mein Beitrag schon mehr als 5.000 Leser erreicht hat. Von mir, dem einfachen Physiker und Poet wollen so viele Leute wissen, was ich vom Service, dem Frühstücksbuffet und dem Saunabereich halte. Mit wohlrecherchierten Aussagen und Schlussfolgerungen zu neurologischen und psychologischen Fragen erreiche ich im Durchschnitt nur ein Zehntel an Klicks.

Nicht mit nackten Körpern kann man seine Leser und Zuschauer begeistern, denn an der Front sind die Konsumenten ziemlich übersättigt. Auch Anregungen zum Nachdenken stehen nicht allzu hoch im Kurs, ist doch die weiterführende Beschäftigung mit einem Thema möglicherweise anstrengend oder löst einen unangenehmen Perspektivenwechsel mit Tendenz zum Umdenken aus. Etwas zu verkaufen, was nichts kostet, der Angst zu begegnen, selbst das Produkt zu sein und ohne Garantie eines unmittelbaren Nutzens ist ein hartes Geschäft.

Ich stehe im Wettbewerb um Leser, Abonnenten und Neugierige im Internet-Strom nahezu unermesslich vieler Texte, beim Kampf um die wenigen Sekunden Aufmerksamkeit, die der normale Konsument einem Beitrag zu spendieren bereit ist. Informationshungrige und gleichzeitig informationsüberflutete Lebewesen sind Sklaven ihres Limbischen Systems, das in Sekundenbruchteilen über Leben (Lesen) und Tod (Wegklicken) entscheidet.

Hallo, liebe Amygdala, ich bin dein Freund, lass mich an allen Türstehern vorbei in das Zentrum des Denk-Apparates vordringen und erlaube mir, in ihm ein paar spannende Denkprozesse auszulösen.

Montag, 17. März 2025

Moderne Postkutschen

Vor gar nicht so langer Zeit waren die Menschen auf ihren eigenen Körper angewiesen, wenn sie von einem Ort zu einem anderen wollten. Die zwei Beine trugen problemlos bis zum Nachbarort, zu seltenen Gelegenheiten dann auch mal zur Kirchweih in die nächste Stadt. Aber die Reichweite war sehr begrenzt und wer Probleme mit Füßen oder Beinen hatte, der musste zu Hause bleiben.

Ein Pferd oder ähnliche Möglichkeiten, diese Reichweite zu vergrößern war einigen wenigen vorbehalten. Entsprechend war die Erfindung der Kutsche ein sensationeller Schritt in Richtung Mobilität. Zwar waren auch diese Transportmittel für normale Menschen kaum bezahlbar, aber sie boten einen Quantensprung in Sachen Entfernung.

So weit, wie ein Pferdegespann an einem Tag ziehen konnte, war man jetzt mobil. Ab Einbruch der Dunkelheit musste man einen Gasthof ansteuern und dort bis zum nächsten Tag pausieren. Nicht nur die Fahrgäste, auch der Kutscher und erst recht die Pferde brauchten eine Unterbrechung der Fahrt. Gestärkt konnte es im Morgengrauen weitergehen.

Der nächste Schritt war die Einführung von Relaisstationen. Hier wartete ein ausgeruhtes Paar Pferde, vielleicht ein ausgeschlafener Kutscher, bei Bedarf auch eine intakte Kutsche. Die Reisenden mussten nur kurz auf das Umspannen warten, eventuell mussten sie umsteigen. Aber ohne ernst zu nehmende Unterbrechung ging es weiter.

Und dann gab es einen großen Schritt in der Entwicklung. Man baute Automobile, Fahrzeuge, die mit einem Kraftstoff betankt wurden. Keine erzwungene Übernachtung, kein Umsteigen, lediglich seltenes Nachfüllen von Benzin waren erforderlich. Die Reichweite nahm für damalige Verhältnisse beeindruckende Größenordnungen an. Einziges Limit war die Verfügbarkeit von Tankstellen, die Haltbarkeit des Fahrzeugs und das Durchhaltevermögen des Fahrers.

Über Jahrzehnte hinweg blieb die Weiterentwicklung an dieser Stelle stehen. Zwar wurden die Autos robuster, die Bedienung einfacher und die Dichte des Tankstellennetzes nahm zu. Aber grundsätzlich gab es keinen spektakulären Fortschritt. Doch dann kam das Elektroauto. War es anfangs ein Exot wie die damaligen Postkutschen, schuf es sich schnell einen eigenen Raum und Benutzerkreis. Stromtankstellen waren Mangelware, die Reichweite gegenüber den gewohnten Werten erschreckend gering und die Ladezeiten beachtlich.

Doch das schreckte die tapferen Pioniere nicht. Mehr Geld auszugeben für ein Produkt, das deutlichen Komfortverlust, massiv ausgedehnte Vorplanung von Reisen und eine Erhöhung der Unsicherheit bei der Reisedurchführung mit sich brachte, war kein Thema. Wie zu Zeiten der Kutschen waren nun wieder Relaisstationen (E-Ladesäulen), erzwungene Pausen oder gar Übernachtungen und schlimmstenfalls das Liegenbleiben mit leerer Batterie (erschöpften Pferden) wieder in den Alltag gerückt.

Ohne die positiven Aspekte in Frage stellen zu wollen und unter Berücksichtigung der durchaus sinnvollen Anwendungsfälle haben wir es zumindest im Sinne einer allgemeingültigen Lösung eher mit einem Rückschritt als mit einem Fortschritt zu tun. Oder wie es im Kabarett einmal hieß: "Es geht vorwärts, aber nur im Kreise".

Sonntag, 9. März 2025

Mein Sicherungskasten

In meinem Elternhaus gab es im Sicherungskasten nur drei Sicherungen, für jede Etage eine. Machte der Toaster Schwierigkeiten, ging auch das Haustürlicht nicht mehr. Ein Kurzschluss im Badezimmer sorgte für Dunkelheit in Flur und Treppenhaus. Ein wenig differenzierte Absicherung war höchstens für Sonderfälle wie den Elektroherd vorgesehen.

In neuen Häusern ist das völlig anders. Fast jede Steckdose und jede Lampe hat ihren eigenen Automaten. Brennt eine Glühbirne durch und löst die Sicherung aus, dann ist der Rest des Zimmers immer noch beleuchtet, der Fernseher läuft noch und die Steckdosen sind auch noch verwendbar. Kleinteilig wird fast jeder Verbraucher einzeln abgesichert. Abgesehen von mehr Sicherungen und Verteilerkästen erkauft man diese Differenzierung auch mit mehr Verkabelung.

Wie sieht es denn eigentlich im "eigenen" Sicherungskasten aus? Wie leicht brennt bei mir eine Sicherung durch und was fällt dann alles aus? Jeder Mensch hat eine Art Unterverteilung für wichtige Körperfunktionen, die sozusagen getrennt abgesichert sind. Wem eine Handlung missfällt, der atmet im Normalfall unverändert weiter (wenn auch vielleicht schneller oder intensiver). Aber ob der Ärger im Büro auch auf meine Freizeit durchschlägt und mir den ganzen Tag versaut, das ist nicht nur individuell unterschiedlich, sondern auch bis zu einem gewissen Grad steuerbar.

Und noch eine Parallele zum elektrischen Sicherungskasten. Gibt es nur wenige Hauptleitungen und sind diese bereits am Limit der Leistungsgrenze, dann bedarf es gar keines Kurzschlusses, um die Sicherung "herausfliegen" zu lassen. Wer bereits unter Spannung steht, der rastet viel leichter aus, als eine Person, die selbst unter einer gewissen Last noch im emotionalen Leerlauf unterwegs ist.

Es erfordert bewussten Umgang mit seiner Denkwelt, um eine Trennung einzelner Felder hinzubekommen, eine Unterverteilung für Beruf und Privatleben zu etablieren und darin wiederum einzelne Domänen gegeneinander abzugrenzen. Wenn der Chef mich ärgert, sollte ich das nicht unbedingt bei der anrufenden Kundin auslassen.

Zum Abschluss noch: Während eine elektrische Sicherung sich im Normalfall nicht von alleine wieder einschaltet, gibt es in unserem Gehirn Mechanismen, die nach mehr oder weniger kurzer Zeit für einen Reset führen. Wir haben uns beruhigt, können wieder klar denken. Doch in beiden Fällen ist es möglich, einzugreifen und den Normalzustand (nach Behebung des Auslösers!) wieder einkehren zu lassen.