Samstag, 27. Juni 2020

Herr, schau nicht auf unsere Sünden

Ich glaube, das kennt jeder: Man hat mit einem Mitmenschen, sagen wir mal, einem Kollegen zu tun, der einem gehörig auf die Nerven geht. Eigentlich ist er nicht nur fachlich inkompetent, auch seine arrogante Art und überhaupt: wenn der schon reinkommt.

Doch halt, so einfach dürfen wir es uns nicht machen. Schauen wir doch mal genauer hin.

Er mag ja nun objektiv in der betroffenen Aufgabe nicht richtig eingesetzt sein. Von mir aus dürfen wir ihn also – ausdrücklich bezüglich dieses Jobs – als fachliche Fehlbesetzung einwerten. Schließt sich direkt die Frage an, ob er in anderen Fachaufgaben vielleicht sehr gute Arbeit leistet. Und noch einen Schritt weiter, ob im aktuellen Umfeld nicht gerade diese Kompetenz von Nutzen sein kann.

Dann zweitens die Arroganz. Es gibt Menschen, die scheinen von Natur aus diese Eigenschaft zu demonstrieren, auszuleben, zu verströmen geradezu. Sind sie arrogant oder wirken sie (nur) so? Insbesondere im ersten Fall bohre ich sofort wieder nach: Warum sind sie hochnäsig, was haben sie davon, welches (tiefere) Bedürfnis steckt auf ihrer Seite dahinter?

Und drittens dann noch die Sache mit der geradezu aggressiven Reaktion beim Eintritt in meine Sphäre. Hier ist der Mann ganz offensichtlich zwar der Auslöser, aber die Wirkung passiert in mir. Entsprechend bin ich Herr der Lage und kann in mir den Wirkmechanismus erforschen, das „Weil“ erkunden und in sachlicher Betrachtung auch meine Reaktion beeinflussen.

Im aufgeführten Beispiel entwickelt sich aus einer (nach außen sichtbaren und faktisch belegbaren) Abwertung ein Abfärben auf andere Eigenschaften, die zum Teil weniger messbar sind, jedenfalls aber in der verallgemeinerten Kritik untergehen.

Und damit sind wir am Kern meiner Anregung für heute: Wir sind ja schließlich keine Hunde, die sich in der Wade verbeißen, sondern sind grundsätzlich in der Lage, verschiedene Eigenschaften zu differenzieren. Im Idealfall nehmen wir zwar (auch) die schlechten Merkmale wahr, nutzen und schätzen aber insbesondere auch die (in der allgemeinen Unzufriedenheit wahrscheinlich unerkannt gebliebenen) guten Punkte.

Wie heißt es in der Kirche: „Herr, schau nicht auf unsere Sünden (also die schlechten Dinge), sondern auf den Glauben Deiner Kirche (die positiven Aspekte)“.

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