Freitag, 9. Oktober 2020

Durch die Augen meiner Mitmenschen

Auf dem Weg durch den Bahnhof habe ich die Lektüre der Nachrichten während der Zugfahrt hinter mir, auch die Durchsicht der anstehenden Termine ist erledigt. Zeit jetzt für ein kleines Spielchen. Ich laufe also durch den Bahnhof und schaue mir die anderen Leute an.

Gerade kommt mir ein Herr in meinem Alter entgegen, er starrt auf sein Handy. Schwupps, versetze ich mich in ihn, schaue durch seine Augen und sehe in Gedanken sein Smartphone vor mir. Gerade ist da eine Nachricht von seiner Frau auf dem Display. Ich schaue kurz hoch, damit ich nicht mit anderen Personen zusammenstoße, sehe mich mit Rucksack auf ihn zueilen und weiche aus, während ich weiter die Nachricht auf dem Smartphone lese. Schwupp, vorbei.

Eine junge Frau links neben mir bahnt sich diagonal einen Weg durch den Menschenstrom in Richtung Nebenausgang. Schwupps, drin. Hektisch sehe ich durch ihre Augen um mich, halber Laufschritt und immer auf der Suche nach einer Lücke, durch die ich mich möglichst schnell zum Ausgang bewegen kann. Schräg rechts neben ihr ein dahintrottender Mann mit Rucksack (das bin ich), vor dem sie noch schnell vorbeischlüpft und in wenigen Schritten, plötzlich noch schneller, den angepeilten Durchgang zur Westseite erreicht. Schwupp.

Und da der Kaffeeverkäufer hinter seinem Stand. Gelangweilt schaue ich durch seine Brille der morgendlichen Menschenflut zu. Oh, da kommt tatsächlich ein Kunde auf seinen Stand zu, ich schaue ihn an, mustere ihn und überlege, was er nach der Begutachtung des Angebots wohl nehmen wird. Ich tippe mal auf Milchkaffee. Richtig geraten! Ich drehe mich um, vor mir jetzt die Maschine, Becher unterstellen und Knopf drücken während ich die Kasse öffne.

Bahnhof zu Ende, ich trete ins Freie. Aber das Kammerspiel geht noch weiter. Jetzt entwickle ich im Kopf das Ende dieser drei Szenen.

Der Herr hat seinen Bahnsteig mittlerweile erreicht, festgestellt, dass der Zug verspätet ist und er noch einen Cappuccino holen kann. Er ist auf dem Weg zum Kaffeestand, wo der Verkäufer gerade abkassiert und den Becher aushändigt, noch auf die Selbstbedienung bei den Löffeln und Deckeln hinweist.

In genau dem Moment, in dem der Herr den Nebenausgang passiert, kommt die junge Frau herausgestürmt, sie war beim "Backwerk" und versucht nun in höchster Eile noch ihren Zug zu bekommen. In ihrer Hektik stößt sie mit dem Herrn zusammen, der überrascht ins Torkeln kommt und gegen den Kaffeekunden stößt, der gerade einen Deckel auf seinen Milchkaffee drücken will. Leider ist der Deckel noch nicht drauf und der Becher fliegt durch die Gegend.

Großes Geschrei. Der Kaffeeverkäufer kommt mit einem Lappen gelaufen, die Sauerei vor seinem Laden ist schlecht fürs Geschäft. Nochmal lautstarke Vorwürfe und Motzereien, die junge Frau tut unbeteiligt und rast wieder los Richtung Zug. Auch die anderen ziehen weiter, der Herr – jetzt mit Cappuccino – zu seinem ICE, der Kaffeekunde mit einem neuen Becher Milchkaffee zu seinem Büro und der Verkäufer kann sich weiteren Kunden zuwenden.

Alles geht seinen Gang.
Nächste Szene morgen.

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