Dienstag, 22. November 2022

Die Entjungferung der Customer Journey

Sie kennen bestimmt auch diese Entjungferung von Begriffen. Bis zu irgendeinem Zeitpunkt ist ein Wort mehr oder weniger neutral, man verbindet kein spezielles Bild damit oder gar eine eigene Geschichte. Und dann passiert etwas, was ebendiese Bedeutungslosigkeit beendet. Vor Jahren fuhr ich durch Wiesbaden, von der Platte kommend rechts in eine Straße, die mir vom Navi angesagt wurde. "Unter den Eichen", und ich dachte spontan nicht an die Bäume, sondern an die Verkleinerungsform von Ei. Und da bekommt dieser Name eine ganz andere, sagen wir mal erotische, Bedeutung. Ich erkannte natürlich sofort meinen Irrtum, aber seither kann ich nicht mehr dort entlang fahren ohne dieses Bild vor Augen und ohne zu schmunzeln.

Die Entjungferung der Customer Journey
Und heute Morgen war es dann auch wieder so weit. Ich hatte ausnahmsweise mein Homeoffice verlassen und wollte zum Schreibtisch in Frankfurt fahren. Mit der Bahn also, was sich zunächst auch gut anließ, fuhr der Zug doch pünktlich los und legte auch den ersten Teil der Strecke in der vorgesehenen Zeit zurück. In die Zeitung vertieft registrierte ich nur am Rande, dass wir dann vor Höchst einen unplanmäßigen Halt einlegten. Und dort eine gute Weile standen, uns in den Bahnhof vorarbeiteten, wo dann der nächste längere Stopp war.

Nun, ich will nicht alle Details ausführen - regelmäßige Bahnfahrer kennen die Vielfalt der Meldungen und Begründungen, warum Züge ausfallen, verspätet sind, unvermittelt enden oder umgeleitet werden. Sie machen eine (wie es im modernen Jargon der Vertriebler heißt) Customer Experience, eine Kundenerfahrung. Was eigentlich positiv nach Erlebnis klingen soll, angesichts der Verfünffachung der Fahrzeit aber eher im Sinne eines Traumas wahrgenommen wird.

Noch lustiger, weil doppeldeutig und in diesem Fall auch so völlig unpassend ist der Begriff der Customer Journey. Stimmt schon, es ist eine Kundenreise, doch leider nicht als spaßige Tour durch die wundervolle Welt der Produkte mit einem Glücksmoment am Schluss. Nein, es ist eine unerwünschte Abenteuerreise, eingebettet in ein verärgertes Umfeld und hektische Versuche, trotz Funkloch Kontakt mit dem Büro aufzunehmen und Termine zu verschieben.

Und so erweitere ich - herzlich willkommen - meine Sammlung der Begriffe, die ihre Unschuld verloren haben.

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