Ganz klassisch habe ich seit meiner Kindheit ein Wirtschaftssystem erlebt, das so etwas wie Konjunkturzyklen kennt. Ich habe etwas über die Marktwirtschaft erfahren, in der die Begriffe Angebot und Nachfrage eine zentrale Rolle spielen. Das System geht als Ganzes von einem tiefen Punkt über einen Aufschwung zum Boom über, um dann wieder zu schrumpfen und letztlich diesen Zyklus wieder neu zu durchschreiten. Die Wirtschaftswissenschaftler haben den einzelnen Abschnitten Namen gegeben, bestimmte Eigenschaften zugeordnet und konnten an bestimmten Kennzahlen zeigen, dass sie mit ihrem Modell die Wirklichkeit abbildeten.
Aber ein Modell hat auch immer seine Grenzen. Das liegt im Wesentlichen daran, dass geänderte Einflüsse dafür sorgen, dass die (impliziten) Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind. In der Realität beobachtet man immer wieder, dass der Grundgedanke vom freien Markt, der Preisbildung über Angebot und Nachfrage, nur höchst selten zutrifft. Mit diesem einleuchtenden, aber zu stark vereinfachten Ansatz kann man beispielsweise die derzeitigen Benzinpreise so wenig erklären wie deren Schwankung.
Genauso muss man auch die globale Formulierung von Konjunkturzyklen in Frage stellen. Ist der nach diesem Modell postulierte Ansatz branchenübergreifend zutreffend oder anders formuliert: Ist die Korrelation zwischen allen Branchen so groß, dass Auf- oder Abschwung sie kollektiv trifft? Tatsächlich gibt es eine Kopplung, die aber nicht durchgängig die gleiche Stärke aufweist. Während der stationäre Vertrieb schwächelt erlebt der Versandhandel einen deutlichen Aufschwung. Wir haben es also nicht mit einem generellen Abwärtstrend zu tun, sondern mit einer deutlichen Verschiebung.
Ein weiterer Aspekt ist der Zeitversatz. Anders als in den Modellen dargestellt haben wir es nicht mit geschwungenen und stetigen Verläufen zu tun. Vielmehr gibt es abrupte Veränderungen nichtlinearer Natur, also plötzliche Umschwünge nach längeren Phasen eines pseudo-stationären Betriebes. Die Logistikbranche hat über viele Jahre lang einen erbitterten Kampf ums Überleben geführt, endlich kann sie durch die massiv gestiegenen Online-Käufe die Preise anpassen.
Dieser Aspekt lässt sich auch bei Lebensmittelpreisen oder auf dem Arbeitsmarkt beobachten. Flächendeckend, Branchen- und Regionen-übergreifend fehlen Arbeitskräfte. Wurden über Jahre hinweg zu wenige Mitarbeiter eingestellt oder die Aufbauarbeit bei Nachwuchskräften vernachlässigt, wird der Markt nun von Stellenangeboten überschwemmt. Was absehbar zu einem Überhang an Mitarbeitern führt, der demnächst der rückläufigen Auftragslage hinterherhinkt.
Drittens übertreibt der Markt immer ein wenig, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Es gibt Angebote, die nur durch Stützung oder Querfinanzierung auf dem Markt gehalten werden können. Sie sind also trotz vorhandener Nachfrage unterfinanziert, ein höherer Preis lässt sich allerdings beim Kunden nicht durchsetzen. Ausgelöst durch geänderte Randbedingungen oder durch den mutigen Vorstoß eines Mitbewerbers ergibt sich zu einem gewissen Zeitpunkt dann die Möglichkeit, die Preise anzupassen. Nicht ganz überraschend, dass bei dieser Gelegenheit nicht nur der entgangene Gewinn nachgeholt, sondern gleich auch noch das Schaffen eines finanziellen Polsters eingeleitet wird.
Dann haben wir es viertens mit ausgeprägten Mitnahmeeffekten zu tun. Branchen oder Regionen ohne explizite Kopplung nutzen die Gelegenheit, der Preisanpassung anderer Märkte zu folgen. Warum Kontoführungsgebühren bei steigenden Einlagezinsen angehoben werden müssen ist aus Sicht der Marktkonstruktion nicht erklärbar.
Unter diesen Gesichtspunkten muss man in Frage stellen, ob der Begriff des Abschwunges sich überhaupt noch auf die Wirtschaft als Ganzes anwenden lässt. Zwar ist die Preissteigerung allenthalben spürbar, allerdings als lange aufgeschobene und jetzt nachgeholte flächendeckend Preisanpassung zu verstehen. Wir haben uns daran gewöhnt immer mehr für immer weniger (oder zumindest gleiches) Geld zu bekommen, was jetzt wieder ins Gleichgewicht gebracht wird.
Dieser Vorgang ist zweifellos schmerzhaft und führt wie jede Wirtschaftsveränderung zu erheblichen Turbulenzen bis hin zu Verlusten, ist aber wiederum nicht kollektiv. Es gibt auch hierbei Gewinner und Verlierer; was am Ende zählt ist die Gesamtbilanz der Wirtschaftsentwicklung, vornehmlich zu erkennen am BIP, der Gesamtbeschäftigung und der Preisentwicklungen.
[Weitere Blogs: Interdisziplinäre Gedanken, Feingeistiges]
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen