Montag, 27. Februar 2023

Im Schulbus mit Annalena

Im Schulbus mit Annalena
„Mensch, Annalena“, sage ich, „drängel nicht so!“ Wir stehen in der Schlange vor dem Schulbus, wir gehören zu den Großen und haben Anrecht auf unseren Stammplatz auf der Rücksitzbank. Erstens gibt es nur eine Bank, was sie besonders wertvoll macht und zweitens ist da reichlich Platz für Hefte und Schultaschen, wenn man nur zu viert auf den fünf Plätzen sitzt.

Die Kleinen weichen mir aus, Annalena tut so, also ob sie das nicht bemerkt und schiebt sich hinter mir durch den Mittelgang bis zum Busende. „Hast du Mathe?“ will sie von mir wissen. Ich seufze, im Grunde ist es mir egal, ob sie bei mir Hausaufgaben abpinnt, aber sie könnte doch entweder selbst auch mal ein paar Aufgaben durchrechnen oder mal jemand anders anpumpen. Andererseits finde ich sie insgeheim ja ganz süß und so krame ich in meiner Tasche und schiebe ihr die Ergebnisse zu. Ohne lange nachzudenken hat sie schon einen Stift in der Hand und den Bewegungen des anfahrenden Busses entgegenwirkend beginnt sie, die Lösungen in ihr Heft zu kritzeln. Wir haben gerade Geometrie, naja, die Zeichnungen mit Drehungen und Winkeln wird sie bei der Wackelei nicht unbedingt hinbekommen, das sollte ihr eine Lehre sein.

„Lass mich raten, du hast bestimmt auch noch nicht die Zusammenfassung für Geschi geschrieben.“ – Sie schaut auf, der Bleistift schrammt über die Matheaufgabe. „Was für eine Zusammenfassung? Oh nein, oh ja, oh Gott, da war was. Wieviel hast du denn gemacht?“ – „Ne knappe Seite, es ging um Kriegsmaterial im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, ziemlich viele Seiten im Buch.“ – „Wenn ich mit Mathe fertig bin…“ – „Ja, kannst du auch abpinnen, aber nicht wieder wörtlich wie letztes Mal, das war ganz schön knapp als du vorgelesen hast und der Semmelrogge danach mich drangenommen hat.“ Ich weiß noch ganz genau was ich gedacht habe, als Robert reingegrätscht ist und den Pauker abgelenkt hat: Manchmal sind Timing, coole Helfer und ne große Klappe wichtiger als den Stoff drauf zu haben.

Eilig überträgt sie weiter meine Mathesachen, hier und da sind Fehler drin, aber ich sage lieber nichts, dann fällt es nicht so auf, dass sie es irgendwo abgekupfert hat. Der Bus hält, nächste Station erreicht, noch ein paar Kameraden strömen herein. Jörg drückt sich zu uns auf die Rücksitzbank. Direkt neben Annalena zu sitzen findet er gut, ich glaube, es gibt noch ein paar Jungs, denen es ähnlich geht. Aber die sind alle nicht so gut wie ich, das weiß Annalena und deshalb kommt sie wegen Abschreiben immer zu mir.

Es gibt kaum ein Fach, in dem sie mich nicht anpumpt. Dauerbrenner ist Erdkunde, das haben wir Gott sei Dank heute nicht, sonst käme sie mit ihrem Zeitbudget der Busfahrt überhaupt nicht über die Runden. Immerhin hat sie jetzt Mathe fertig, noch etwa fünf Minuten bleiben bis zur Schule, vermutlich muss sie eine Pause opfern, um meine Geschi-Klamotten abzupinseln. Ich nehme mir vor, dabei in der Nähe zu bleiben, damit der Text sich deutlich von meinem unterscheidet.

Und morgen oder übermorgen muss ich unbedingt bei ihr zu Hause vorbei, dann kann sie erst mal meine Hausaufgaben in Ruhe abschreiben und vielleicht geht dann ja noch was. Und wenn wir nur Tee trinken und sie mir erzählt, was sie nach der Schule vorhat. Jörg hat mir nämlich gesteckt, dass sie ganz groß in die Politik einsteigen will; ich kann es mir vorstellen und bin neugierig, was sie mir erzählt.

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