Montag, 13. November 2023

Da erwacht das Tier (in dir und mir)

Kathrin ist total lieb. Bei ihr habe ich noch nie erlebt, dass sie laut wurde, mit deutlichen Worten ihre Meinung geäußert oder gar aggressiv geworden wäre. Aber neulich auf dem Spielplatz, als ein fremder Mann mit seinem Hund zu nah am Sandkasten vorbei kam, da ist sie mit dem Picknickmesser auf ihn losgegangen. Ich glaube, im nächsten Moment war sie über sich selbst erschrocken.

Da ist Paul von einem anderen Kaliber. Im Alltag lebhaft und als typischer Vertriebsmensch kontaktfreudig und sehr eloquent. Er hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen, verwickelt Kunden in jeder Warteschlange in ein Gespräche und ist auch für einen Flirt immer zu haben. Aber die Rede bei der Mitgliederversammlung im Sportverein hat ihn schlaflose Nächte gekostet.

Im Moment sitze ich bei einem Vortrag über die Geschäftsentwicklung eines großen Unternehmens. Freundlich winkt der Vorsitzende ins Publikum, präsentiert gute Zahlen und sonnt sich in seinem eigenen Erfolg. Auf Fragen aus der Zuhörerschaft reagiert er mit einfühlsamen Worten. Doch plötzlich kippt die Stimmung, er wird wegen einer Entscheidung zur Strategie kritisiert. Mit groben Worten wehrt er sich und kontert mit Vorwürfen der Ignoranz und des mangelnden Verständnis.

Da erwacht das Tier in dir und mir
Drei Menschen, drei Szenen. Was immer gleich ist, dass man selbst nach vielen Jahren der Bekanntschaft nicht vor Überraschungen sicher sein kann. Meist sind es Stresssituationen, die zu einer unerwarteten oder zumindest betont heftigen Reaktion führen. Es können aber auch (bis dahin verdeckte oder unbekannte) Vorgeschichten sein. Bei der Gelegenheit denke ich an den Hund aus dem Tierheim, der ausrastet, weil ihn mein Bart an einen Peiniger aus seiner Welpenzeit erinnert.

Manchmal hilft es, wenn man sich mit dem Gegenüber beschäftigt, möglichst viel über sein bisheriges Leben und seine Erfahrungen weiß. Vielleicht ist Kathrin selbst schon einmal von einem Hund gebissen worden, Paul als Kind bei einem Vortrag ausgelacht oder der Vorsitzende bereits von seinen Kollegen in die Zange genommen worden.

Obendrein ist es manchmal sinnvoll, sich mit der Position des Mitmenschen zu beschäftigen. Eine Person ist nicht dadurch Vorstand geworden, dass er es allen Recht machen und angepasst mitlaufen wollte. Vielmehr gehören Durchsetzungsvermögen und eine gewisse Härte meistens zu den Grundausstattungen. Und die kann dann mehr oder weniger unvermittelt zum Vorschein kommen.

Und selbst wenn man mit einem Kampfhund auch mal schmusen kann, darf man nie vergessen, dass er scharfe Zähne hat und diese bei Gelegenheit auch einsetzt. Nur dass wir oft nicht wissen, wann aus Sicht unseres Gegenübers die „Gelegenheit“ ist, dass das Tier in ihm erwacht. Aber wir können ganz sicher sein, dass in wirklich jedem von uns ein Tier steckt, dass ohne Vorwarnung herausbricht.

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