Sonntag, 24. November 2024

Schlammdumm

Im Jahr 1878 musste in den USA eine Bahnschwelle ausgetauscht werden, weil bei der Vorbereitung ein Loch zu wenig gebohrt worden war. War das in (a) Michigan, (b) North Dakota oder (c) Kalifornien? Eine schwierige Frage, und man kann die Spätwirkung auf den aktuellen Regierungswechsel kaum erahnen. Ein Fall, bei dem Schwarmintelligenz gefordert ist. Mit Sicherheit hat irgendwo auf der Welt jemand einen Großvater, der sich daran erinnert einen Freund gekannt zu haben, der von dessen Urahnen genau diese Geschichte erzählt hat.

Die Story ist im ersten Schritt bekannt, aber die Frage nach dem Ort ist noch ungeklärt. Wo haben die damals ihre Siedlung gehabt? Haben sie nebenbei auch von Zitrusfrüchten berichtet? Es könnte Kalifornien gewesen sein. Oder doch eher von fortwährenden Unruhen? Dann käme eher North Dakota in Frage. Spielten Seen eine Rolle in den historischen Erzählungen? Das würde auf Michigan hindeuten.

Schlammdumm
Kein Zweifel, die simple Eingangsfrage kann eine Einzelperson normalerweise nicht beantworten. Sie ist nur durch Schwarmintelligenz zu lösen. Doch will man das überhaupt? Wen interessiert die Antwort, war sie jemals von Relevanz, ist sie es heute oder wird sie es absehbar irgendwann mal sein?

Sicher, für die Teilnahme an Quizshows im Fernsehen mag es von Belang sein, sich auch mit dem Bohren von Bahnschwellen in den USA des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts auszukennen. Und da geht es je nach Sendung um ziemlich viel Geld.

Aber in anderen Wechselfällen des Lebens ist dieses Wissen nicht erheblich. Es kann also da bleiben, wo es ist: Im tiefen Tümpel der historischen Ereignisse, der zum einen in seinen morastigen Untiefen Überraschungen versteckt hält. Der aber zum anderen alles zu Schlamm zersetzt, was vom aktuellen Informationssystem nicht zeitnah verwertet wird.

So mutiert die Vorstellung von Schwarmklug über Schwarmdumm zu Schlammdumm.

Montag, 18. November 2024

Das bin ja gar nicht ich

 Nach der Sportrunde stehe ich unter der Dusche, lasse vom Wasser das Shampoo herunterspülen und freue mich über die langsam einsetzende Entspannung. Handtuchumhüllt gehe ich in die Umkleide, trockne mich ab und stehe vor dem Spiegel über dem Frisiertisch. Upps, denke ich, das bin ja ich, der da im Spiegel zu sehen ist.

Ich betrachte meine Figur, schaue mir mein Gesicht an. Naja, der Jüngste bin ich nicht mehr, aber insgesamt noch ganz gut erhalten. Da kommt mir eine Fee in den Sinn, drei Wünsche habe ich frei, würde ich einen davon in meine äußere Erscheinung investieren? Die Beine könnten ja etwas länger sein, die Arme kräftiger, der Bauch flacher und im Gesicht weniger Falten. Aber warum nur halbweit springen, ich möchte direkt aussehen wie ein Model. Eine richtig hübsche Frau, nach der sich die Männer umschauen.

Das bin ja gar nicht ich
Während ich mich weiter abtrockne male ich mir aus, wie ich wohl aussehen könnte. Heidi Klum fällt mir ein mit ihren Topmodels. Jugendliche Figur, tolle Proportionen, lange Haare, wohlgeformt am ganzen Körper. Das scheint ein erstrebenswertes Aussehen zu sein, ja, denke ich, so könnte es mir gefallen.

Aber dann fällt mir ein, dass dann alles anders ist. Als Frau wäre die Rolle der Partnersuche getauscht, die gaffenden Blicke der Männer würden mir mit der Zeit auf die Nerven fallen. Die Frage, ob mich jemand wegen meines Charakters oder wegen meiner Figur kennenlernen möchte stände permanent im Raum. Und mit Sicherheit wäre ich wieder unzufrieden, dann vielleicht, weil mir der Busen zu klein, die Hüften zu breit oder die Schultern zu schmal wären.

Doch am schlimmsten wäre die Tatsache, dass ich nicht mehr ich selbst wäre. Aus meiner Haut zu schlüpfen ist ja nicht nur eine Korrektur des Aussehens, es hätte automatisch und zwingend auch Auswirkungen auf meine Mitmenschen, meine Erfahrungen, mein Umfeld. Alles, was ich in den bisherigen Jahrzehnten meines Lebens für mich bewertet und in meine Lebensführung und alle Entscheidungen und alles Verhalten überführt habe, müsste ich neu gestalten. Ich wäre einfach nicht mehr ich.

Ich schlüpfe in mein Hemd, es spannt beim Anziehen ein wenig über dem Bauch, rutscht dann aber doch herunter und passt jetzt auch ganz gut an den Schultern. Okay, ich könnte das Hanteltraining intensivieren, einen Bauch-Beine-Po-Kurst besuchen und die Form so ein wenig anpassen. Aber den ganz großen Umschwung und ein ganz neuer Mensch – diesen Gedanken finde ich jetzt eher gruselig.

Sonntag, 10. November 2024

Das Ende des Glückes

In der Physik unterteilt man die Forschungsgebiete in Betrachtung einzelner Teilchen (Kernphysik: einzelne Atome), deren Wechselwirkung miteinander (Atomphysik und Festkörperphysik) und das Verhalten großer Teilchenzahlen (Thermodynamik). Diese Gebiete sind zwar durch bestimmte Aspekte miteinander verbunden und verwenden zum Teil ähnliche mathematische Grundlagen. Aber die Fragestellungen und deren Beantwortung sind deutlich unterschiedlich.

Es gibt Phänomene, die man schon bei einzelnen Teilchen beobachten kann, zum Beispiel Geschwindigkeit und Impuls. Aber spätestens die Anziehungskraft ist etwas, das erst bei mindestens zwei Teilchen auftritt. Und so etwas wie Druck wird man sinnvoll erst bei größeren Ansammlungen definieren können.

Das werden dann auch die Sozialwissenschaftler bestätigen. Ein einzelner Mensch kann Angst kennen, aber Neid oder Missgunst gibt es erst bei mindestens zwei Personen. Und kollektives Verhalten wie Krieg bildet sich erst bei größeren Menschenmengen sichtbar aus.

Ob nun Physik oder Sozialwissenschaften: Die Basis für den Wechsel von einem zu mehreren beobachteten Objekten liegt im Vergleich. Ein Atom ist größer als ein anderes, ein Mensch reicher als der andere. Oder irgendwelche anderen Eigenschaften, die man mehr oder weniger gut messen kann.

Das Ende des Glückes
An dieser Stelle kommt dann auch die Bewertung ins Spiel. Wenn ein Atom acht Protonen in seinem Kern hat bezeichnet man es als Sauerstoff, wir können auch sagen, dass Stickstoff sieben Protonen hat, aber ist das eine besser als das andere? Ist Sauerstoff wichtiger, weiter verbreitet, nützlicher? Das kommt auf die chemischen Verbindungen an.

Und hier steckt auch die Analogie zum Alltag. Ich bin wohlhabend, Milliarden anderer Menschen sind ärmer, aber viele Millionen sind auch reicher. Das kann ich durch simplen Vergleich der Besitzverhältnisse feststellen, bis zu diesem Punkt als reines Verhältnis von Zahlen. Wie ich dieses Verhältnis interpretiere, ist dann meine Sache.

Jeder Vergleich ist der Keim zur Unzufriedenheit. Es gibt immer irgendwas, das besser zu sein scheint. Und auf einmal kann ich gar nicht mehr genießen, dass es bei mir gut ist, sondern stelle enttäuscht fest, dass es bei anderen besser ist. Wer glücklich sein und bleiben will, der sollte Vergleiche mit seiner Umgebung meiden und nur seinen eigenen Maßstab anlegen.

Montag, 4. November 2024

18 til i die

18 til i die
Noch im jugendlichen Schwung konnte ich mir gar nicht vorstellen, mal älter zu werden. Die Welt war schön, keine drückende Verantwortung für was auch immer, ich war ungebunden und neugierig. Und vor allen Dingen war alles easy, einschließlich Bewegung und Sport. Da lag das Motto „18 til i die“ (inspiriert von Brian Adams) nahe.

Es dauerte ein paar Jahre, bis ich die Kehrseite dieser Medaille kennenlernte oder sagen wir besser: sie richtig wahrnahm. Denn in den Augen meiner Mitmenschen war ich ein Küken, ernst genommen zu werden war bei manchen Gelegenheiten einfach nicht drin.

In mir entbrannte ein Widerstreit. Jung bleiben oder gediegen wirken? Letztlich bekam ich dann aber doch beide so widersprüchlichen Seiten unter einen Hut. Mit einer gewissen altersbeförderten Seriosität in einem Körper, der auch gerne mal auf einem Bein auf den Bürgerstein hüpft.

Aber selbst wenn das nach außen nicht immer so klappte, und sei es, weil meine Sprungkraft ein wenig nachließ, lag der Schwerpunkt immer darin, gedanklich jung und so wenig voreingenommen wie möglich zu bleiben. Der altersbedingten Starrheit beherzt mit Spritzigkeit entgegentreten.

Dieses jugendliche Staunen über ferne Länder, fremde Kulturen, unbekannte Mentalität und überhaupt neue Erkenntnisse kann ohne weiteres Teil des Lebens bleiben. Das Gegenteil ist ein kenn-ich-schon, abgebrüht, nichts berührt mehr. Der „Kick“ muss immer heftiger werden, damit ich ihn überhaupt noch wahrnehme.

Wie aufregend ich ein Erlebnis finde, ist einerseits eine Frage der Intensität, aber auch der inneren Sensibilität. Die zehnte Reise in ein grundsätzlich fremdes Land, zum Beispiel Japan, ist auch nach vielen Wiederholungen immer noch ein scharfer Kontrast zum täglichen Leben in Deutschland. Die Empfindung der Abweichungen wird aber immer geringer, man stumpft ab. Doch jede der Reisen ist individuell, und seien es auch nur Kleinigkeiten, die sie von den vorhergehenden Aufenthalten unterscheiden.

Die Kunstfertigkeit scheint darin zu bestehen, sich auch mit 80 noch zu einem Gänseblümchen herunterzubeugen und ihm zuzuflüstern: „Wie schön du bist, was für ein Wunder der Natur.“ Und diese jugendlich-frische Art bis zum Tod zu erhalten.