Es liegt in der der menschlichen Natur, dass man sich an alles gewöhnt. An Gutes, an Schlechtes, sowohl körperlich als auch seelisch. Was wir heute noch als Luxus wahrnehmen, vielleicht sogar explizit zu erreichen versuchen, ist morgen schon unser persönlicher Standard. Die Freude über eine Gehaltserhöhung nimmt nach kurzer Zeit ab, aber auch mit Einschnitten können wir irgendwann umgehen, weil wir uns mit den neuen Umständen arrangiert haben.
Daneben haben wir noch einen anderen Mechanismus, der kaum steuerbar unser Seelenleben beeinflusst. Die Empfindsamkeit wird stets der aktuellen Situation angepasst. Wer Angst um Leib und Leben hat, der hat keine schlaflosen Nächte wegen einer schiefgelaufenen Präsentation. Und wer von außen betrachtet ein sorgenfreies Leben führen könnte, der regt sich über den misslungenen Heckenschnitt des Nachbarn auf. Oder wie Otto Waalkes es formuliert hat: "Ein Freund von mir dachte, der ärmste Mensch der Welt zu sein, weil ihm sein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist."
Wo wir hinschauen, alle haben Sorgen, Ängste und Nöte. Und das auf sehr unterschiedlichem Niveau, wenn man versucht, es bestmöglich objektiv zu bewerten. Doch für den Einzelnen ist die jeweils vorgetragene Not real und sehr präsent. Über irgendwas lässt sich immer mit gekrumpelter Stirn grübeln, irgendwas macht Angst und stellt sich in unserer Psyche ganz vorne auf die Bühne.
Nun hilft es nichts, sich das nur klarzumachen, sich einzureden, dass es anderen noch schlechter geht und so weiter. Nein, so leicht lässt sich dieser Depressionen fördernde Gedanke nicht vertreiben. Man muss es sich eher wie eine Bühne vorstellen, auf der ein Darsteller steht oder auch nicht. Im Prunkgewandt oder in Bettlerklamotten. Der das Rampenlicht nutzt, sich in Szene zu setzen, aller Aufmerksamkeit gewiss. Was würde man als Regisseur machen, wenn es einem zu trüb wäre? Nur von der Bühne werfen geht nicht, das Publikum möchte ja etwas sehen. Kleidung austauschen ist ein möglicher Schritt, aber am Ende brauchen wir einen anderen Schauspieler, ein anderes Bühnenbild, ein anderes Drehbuch.
Ein Drehbuch nämlich, in dem der missratene Schnitt der Hecke durch die Herausforderung einer Neuanpflanzung relativiert wird. Mehr schaffen also, denn auch Bequemlichkeiten in der Arbeitswelt unterliegen einem Gewöhnungseffekt. War früher ein Tag Homeoffice ein mühsam auszuhandelndes Zugeständnis des Arbeitgebers, ist heute schon die Erwartung einer Zwei-Tage-Präsenz eine Aufforderung zum Arbeitskampf. Was wir einmal haben, wollen wir nicht mehr hergeben, weil wir uns daran gewöhnt haben.
Es ist schlichtweg unmöglich, jegliche Gewöhnung zu vermeiden. Und das wäre ja noch nicht einmal wünschenswert, denn wir sollten uns mit den unvermeidlichen Missständen nur im notwendigen Umfang beschäftigen. Auch Dinge, die unseren All-Tag ausmachen, dürfen im Rauschen der Gewöhnung untergehen. Wie man den Schalthebel eines Autos bedient, darf ja nun wirklich bis ins Unterbewusstsein abtauchen.
Aber der Rest, also die Lebenslage, unsere mehr oder weniger gesamtheitliche Zufriedenheit mit Körper, Gesundheit, Lebensumständen und Freude: Dieser Rest verdient Beachtung. Und wer merkt, dass ihm der Rasierpinsel nicht nur ins Klo gefallen ist, sondern daraus eine Tragödie zu entstehen beginnt, der ist gut beraten, sich Herausforderungen zu stellen, die ihn in Anspruch nehmen, seinen Geist oder Körper fordern und aus dem Schaffen von Neuem eine innere Zufriedenheit entstehen lassen.
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