Montag, 28. Oktober 2024

Grenzen der Empathie

In meinem Waschbecken sitzt eine kleine schwarze Stubenfliege. Ich habe nicht viele Exemplare von diesen kleinen Insekten in meinem Badezimmer und so bin ich mir sicher, dass sie auch gestern schon hier herumgeflogen ist. Jetzt sitzt sie also auf dem weißen Porzellan, um sie herum einige Wassertropfen von meinem Zähneputzen. Das scheint sie nicht zu stören, mehr noch, sie lässt sich überhaupt nicht davon irritieren, selbst in der Nähe aufschlagende Tröpfchen setzen sie nicht in Bewegung.

Eine einfache Erklärung wäre, dass sie die Tropfen einfach nicht gesehen, nicht registriert hat. Aber das kann nicht sein, denn sie sind ganz in der Nähe und wären von den Facettenaugen sicher erfasst worden. Vielmehr glaube ich, dass sie müde ist, nach den letzten Tagen ohne Nahrung erschöpft, geradezu lethargisch ist. Wie mag es ihr gehen, frage ich mich, fühlt sie sich eingesperrt oder einsam, kennt sie so etwas wie Hunger oder Langeweile?

Biologen haben herausgefunden, dass ganz viele Tiere ein Gefühlsleben haben, nicht nur Hunde und Katzen, die wir täglich erleben und deren Reaktionen wir als Freude, Angst, Unsicherheit interpretieren. Auch eine Fliege wird also in vielleicht aus menschlicher Sicht begrenztem Umfang Emotionen empfinden. Genau weiß ich das nicht, ich kann mich überhaupt nicht hineinversetzen, nur versuchen, meine eigene Erfahrungswelt auf sie zu übertragen. Und so lange ich da im Dunkeln tappe ist natürlich Empathie nur sehr eingeschränkt möglich.

Ich entscheide mich dafür, sie aus dem aus meiner Sicht untypischen Lebensraum meines Badezimmers zu befreien, fasse sie vorsichtig an den Flügeln an und bringe sie zum geöffneten Fenster. Schon schwirrt sie los und ich schaue hinterher, mit Sicherheit ist sie jetzt wieder in ihrem Element, aber ob sie sich jetzt besser fühlt kann ich nicht beurteilen.

Natürlich ist das Hineinversetzen in eine Stubenfliege ein wenig schwierig, aber selbst mit viel einfachereren Transfers sind wir meist überfordert. Speziell bei unseren Mitmenschen nutzen wir Signale wie Gestik und Mimik, verbinden sie mit den uns bekannten Informationen und natürlich spielt auch die Körpersprache eine wichtige Rolle. Wenn wir diese zum Teil recht unscheinbaren Beobachtungen miteinander verknüpfen ist die Basis für Empathie schon mal gelegt.

Aber dann kommt die Stubenfliege. Die kann ich zwar beobachten, ihre ungewöhnlich schwache Reaktion lässt bestimmte Vermutungen zu ihrem Zustand zu. Doch das Hineinversetzen scheitert an unserer Verschiedenheit. Jeder Versuch, sich ihrer Sicht zu nähern endet in Mutmaßungen oder Hypothesen. Je unterschiedlicher wir in Persönlichkeit, Charakter oder kultureller Prägung sind, desto schwieriger wird es, mit seinem Mitmenschen zu fühlen, erfolgreich empathisch zu sein.

Am Ende zeigt sich also, dass Empathie sich aus verschiedenen Strängen nährt. Da ist einmal die reine Beobachtung auch feiner Signale, dann aber auch deren Kombination, ein erster Wurf des Hineinversetzens mit der Option, diese Interpretation zu korrigieren und schließlich der Abgleich mit äußeren Faktoren.

Oft empfinden wir einen Menschen als empathisch, weil er geduldig zuhört, Verständnis signalisiert und uns so ein gutes Gefühl vermittelt. Dazu ist es gar nicht notwendig, dass er sich wirklich mit uns identifiziert oder in unsere Haut schlüpft. Es reicht das Signal, dass wir auf der Gefühlsebene einer Meinung sind. Analog wie man über Fakten diskutiert und mehr oder weniger messbare Zahlen miteinander vergleichen kann, so geht es hier um den Abgleich von Gefühlsregungen.

Und das hat – wie das Beispiel mit der Fliege zeigt – seine Grenzen.

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