Montag, 8. Juli 2024

So traurig, die Augen

So traurig, die Augen
Drüben sitzt eine Frau mit Pferdeschwanz, sie ist im mittleren Alter, aber immer noch schön. Alles wirkt gepflegt, eine hochwertige Sonnenbrille sitzt im Haar, ein Handy in ihrer Hand. Ihr Gesicht hat bemerkenswert wenige Falten und ist trotz ihres Alters immer noch sehr zart. Ein dezentens Makeup rundet den ansprechenden Eindruck ab.

Um sie nicht anzustarren schaue ich zur Seite, verfalle in Gedanken, ob sie Sport macht, wie sie wohnt und wann sie ihre Freunde trifft. Ja, überhaupt, welche Freunde sie hat, auf was es ihr bei Bekannten oder ihrem Mann ankommt. Sicher spielt Geld eine Rolle, um ihr Leben so komfortabel zu gestalten und sich so teuer anzuziehen muss schon ein gewisser Wohlstand da sein.

Ich werfe noch mal einen Blick hinüber. Sie hat so traurige Augen, fällt mir jetzt auf. Und bei genauerer Betrachtung ist das Gesicht geradezu weinerlich. Da sehe ich Angst und Sorgen, die sorgfältig unter allerlei wertvoller Schminke verborgen sind. Geldsorgen oder Probleme mit ihrem Partner sind es nicht, vielmehr eine abgrundtiefe Traurigkeit, die ihre Wurzeln im eigenen Leben haben. Alles erscheint schwer, depressiv verschwinden die Farben hinter der ansehnlichen Fassade.

Gerade dreht sie den Kopf, die Sonne ist durch die Wolken gekommen und strahlt ihr in Haare und Gesicht. Ihr Blick fällt auf eine andere Frau, die sie nun anlächelt. Wie freundlich sie erscheint, aber wieder kippt meine Wahrnehmung in diese Traurigkeit, ist doch selbst dieses Lächeln aufgesetzt und endet mit dem Verziehen der Lippen und Zeigen ihrer tadellosen Zähne. Da die Augen nicht mitlächeln gibt es hier auch keine Fältchen.

Ein wenig traurig werde ich jetzt auch. Wie mag der Alltag aussehen, sicher keine Wolkenburg, eher eine dünn vergoldete Hölle. In meiner Phantasie sehe ich einen Swimmingpool, Champagner am Beckenrand, ein Handtuch lässig über eine Relaxliege geworfen und daneben sie, diesmal im Badeanzug und mit einer anderen Sonnenbrille auf der Nase. Aber die Szene ist ohne jegliche Bewegung, mir fällt auf, dass sich selbst das Wasser im Pool nicht verändert, alles scheint erstarrt, abgestorben.

Ich werde aus den Gedanken gerissen, weil sich die reale Frau nun umdreht, vielleicht schaut sie sich nach einem anderen Platz um, der weniger sonnig ist. Oder ist es eine Gruppe vorbeiziehender Jugendlicher, die raumgreifend und schnatternd auf sich aufmerksam machen. Oh, störe meine Ruhe nicht, wie un-er-träg-lich diese Leute, scheint sie zu denken. Ihr ansonsten unbewegliches Gesicht verzieht sich ein wenig.

Sie taucht wieder in meine Phantasiewelt ein, diesmal sehe ich sie in einem Cabrio, undeutlich erkenne ich neben ihr einen wesentlich jüngeren Mann, sportlicher Typ, na klar, das ist eine Golftasche auf dem schmalen Rücksitz. Die Scheiben sind hochgefahren, schließlich darf die Frisur nicht verwüstet werden, ein Tuch weht um ihren Kopf und den Hals, was für eine lustige Szene. Aber auch wieder diese Bewegungslosigkeit, diese Starre, geradezu tot wirkt der Ausflug. Wo mag nur die Bewegung sein, ist es denn möglich, dass ihr Kopftuch sich trotz des Fahrtwindes kein noch so kleines bisschen verändert?

Wie mag sie vor ein paar Jahren ausgesehen haben, sicher schon immer eine schöne Frau, aber seinerzeit noch in Bewegung. Die Yoga- oder Pilatesstunden mögen sie vor körperlicher Versteifung bewahren, ihr Gefühlsleben scheint aber schon vor langer Zeit eingefroren zu sein. Oder zumindest Platz in einer tiefen und dunklen Versenkung gefunden zu haben. Wie schrecklich, denke ich, während ich hinuntergreife und mir einen Knöchel massiere. Kurz dringt ein stechender Schmerz durch den Fuß, den ich mir gestern gestoßen habe. Ich fühle, ich lebe noch, schießt es mir durch den Kopf, selbst wenn es ein unangenehmes Gefühl ist.

Leider muss ich jetzt gehen, aber vielleicht ist es auch gar nicht so bedauerlich, beschäftigt sich mein Kopf nicht mehr mit dieser dunklen Seite einer so hellen Erscheinung. Wäre ich noch ein Kind würde ich meine Spielzeuge nehmen, irgendwo in einer anderen Ecke ausbreiten und mich maximal noch darüber wundern, wie seltsam manche Erwachsenen sind. Wie kann man bei diesem wunderbaren Sonnenschein überhaupt traurig sein, wofür braucht man eine Sonnenbrille im Haar, wenn man sich in den Schatten setzt.

Barclay James Harvest fällt mir ein, "Life is for living and living is free". Was heißt hier "free"? Kostenlos oder umsonst?

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