Freitag, 30. August 2024

Ein Sommergarten voller Kunst 2024: Berührung (3/3)

Die Berührung in der Kunst

Sommergarten voller Kunst - Berührung 3
Vielen Dank für den Zwischenapplaus. Gemeinsam wollen wir nun den Bogen vom Thema Berührung zur Beschäftigung mit Kunstwerken schlagen. Hier tut sich ein weites Feld auf, denn jede Kunstform hat das Potential, uns zu berühren, viel wichtiger noch, mit uns in eine Resonanzbeziehung zu treten. Dabei müssen wir zwei Punkte unterscheiden. Berührungen können Teil des Kunstwerkes sein, beispielsweise ein eng umschlungenes Paar. Sie können auch vom Künstler provoziert sein, das erlebt man häufig bei Skulpturen, die man ausdrücklich anfassen, streicheln, fühlen soll. Berührend kann aber auch ein Blick sein, der aus dem Bild auf uns gerichtet ist. Oder eine Form oder eine Pose, die wir mit einer Erfahrung in Verbindung bringen.

Ich habe für den Abschluss meines Vortrages zwei Bilder meiner Frau ausgewählt, die ich für das Thema Berührung sehr interessant finde. Gerne möchte ich mit Ihnen gemeinsam ein paar Gesichtspunkte der Berührung in den Bildern entdecken, die versammelte Schwarmintelligenz von Ihnen, meinen lieben Zuhörern, nutzen. 

Um alle Bedenken zu zerstreuen und Ihnen die Scheu zu nehmen möchte ich betonen, dass es keine falschen Gedanken oder Assoziationen gibt. Wenn Sie das Bild als aggressiv oder beunruhigend empfinden dann ist diese Sicht genauso zulässig wie die Wahrnehmung einer inniglichen Verbundenheit über Kulturgrenzen hinweg. 

Sommergarten voller Kunst - Berührung 3
Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf, oft kommt Berührung gerade beim Aufeinandertreffen von Gegensätzen zu Stande. (Farben und Blässe, Körperberührung, Bleich-Blau, psychodelisch-realistisch, Blickrichtungen, Wellenlinien/Kringel und Blumen, Gemälde im Gemälde…, Kulturen, Mann und Frau, Kälte und Wärme)

Auf eine ganz andere Art der Berührung stoßen wir beim zweiten Werk. Die ineinander verhakten Hörner und das geradezu körperlich erfahrbare Kämpfen und Ringen steht im Kontrast zum ersten Bild, das wir uns gerade angeschaut haben. (Kampf, Unübersichtlichkeit, Dynamik, Verhaken)

Ich bedanke mich ganz herzlich für das Zuhören, es würde mich freuen, wenn ich den einen oder die andere mit meinem Vortrag erreicht hätte. Denn als Vorstufe für die Berührung muss ich Sie ja erst einmal erreichen, dann mit Worten und Sprachbildern berühren und mitnehmen auf einen Weg der Transformation. Oder um es ganz hochtrabend zu formulieren: Dass Sie jetzt gegenüber dem Beginn der Veranstaltung ein gaaaaanz klitzeklitzeklitzekleinwenig anderer Mensch sind.

Mittwoch, 28. August 2024

Ein Sommergarten voller Kunst 2024: Berührung (2/3)

Der Prozess der Berührung

Ich habe Sie jetzt ein wenig mit Berührungen Vertraut gemacht, die Kombinationen angesprochen, die Bewertung durch unser Gehirn und natürlich die Zweiseitigkeit, also das Berühren und Berührt-werden. Diesen Punkt möchte ich im Folgenden weiter vertiefen, weil er bei der Beschäftigung mit Berührungen eine wesentliche Rolle spielt. Angelehnt an die Resonanztheorie von Hartmut Rosa kann man davon ausgehen, dass Berührung auch eine Antwort erfährt. Wir haben das schon beim Handauflegen mit der Schulter kennengelernt.

Sommergarten voller Kunst - Berührung 2

Der erste Punkt – die Aktion – wurde in uns zu einer inneren Antwort, einer Reaktion. Die Hand auf der Schulter oder auch die Schulter unter der Hand war Teil eines Dialoges. Diese Selbstwirksamkeit führt dazu, dass wir auch dann, wenn wir selbst berühren eine aktive Antwort erfahren. Welche wiederum mit einer leiblichen Reaktion verbunden ist. Je nach Intensität kennen wir das als Gänsehaut, einer Schauer, die uns über den Rücken läuft oder sonstigen körperlichen Ausdrücken von Emotionen.

Und diese Reaktion, diese Emotion macht etwas mit mir. Ich bin danach nicht mehr ganz der Mensch, der ich vorher war. Die Berührung hat mich innerlich bewegt, mich verändert. Das muss nicht immer so dramatisch sein, dass man sein Leben danach umstellt, aber schon die Beeinflussung der Stimmung ist eine typische Auswirkung der Berührung. Sie kann uns nachdenklich machen, fröhlich, traurig; Das hängt von dem Berührt-sein ab, aber sie kann uns nicht völlig kaltlassen.

Man spricht von Transformation und meint damit, dass eine vielleicht unbemerkt und kaum erkennbar kleine Veränderung in unserer Seele stattfindet. Dieser spannende Aspekt wird uns im Zusammenhang mit der Betrachtung von Kunstwerken noch beschäftigen. Denn beim Kunstwerk steht zwischen dem Werk und dem Betrachter noch der Künstler, den wir in dieser Rolle als Initiator der Transformation sehen können.

Sommergarten voller Kunst - Berührung 2
Als kleinen Exkurs möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass der Künstler auch im Sinne eines Übersetzers Transformationsarbeit leistet. Was von seinem künstlerischen Auge aufgenommen und dann auf die Leinwand gebracht wird, ist geprägt von seinem Charakter, von unterbewussten Veränderungen, Umwandlungen und Verfremdungen. Ich denke beispielsweise an Tom Sommerlatte, ebenfalls hier aus dem Wildpark, der in seinen Kunstwerken eine bemerkenswerte Transformation leistet, die es zu entschlüsseln gilt.

Doch zurück zum Prozess, der sich an die Berührung anschließt. Ich habe schon von der Affizierung gesprochen, jenem Moment, der mit seiner Kontaktaufnahme über mindestens einen der Sinne den Vorgang startet. Dann die Reaktion als Teil eines entstehenden Dialogs, einer Re-Sonanz, das heißt einem Widerhall in uns. Drittens die Transformation als Verinnerlichung, in der aus dem zunächst flüchtigen Dialog eine manifeste Veränderung hervorgeht.

Und abschließend noch der Aspekt der Unverfügbarkeit. Sicher haben Sie sich gefragt, ob ich mit meinen komplexen Überlegungen überhaupt noch auf dem Boden der Realität bin. Ob die vielen Fremdwörter und umständlichen Erläuterungen nicht eher akademischer Natur sind und eigentlich gar nichts mit dieser Bilderausstellung oder gar mit dem Alltag zu tun haben.

Sommergarten voller Kunst - Berührung 2
Richtig ist jedenfalls, dass manchen meiner Gedanken ziemlich schwierig zu folgen ist. Gerne können Sie mich nachher noch mal ansprechen und diesen oder jenen Punkt mit mir diskutieren. Denn an genau dieser Stelle greift mein vierter Aspekt, denn man kann zwar eine Berührung erzwingen, aber weder die Resonanz noch die Transformation sind zwingend erreichbar. Vielmehr sind Sie mir als Zuhörer im ersten Moment unverfügbar.

Wer könnte in einer Stresssituation oder wenn er müde oder gelangweilt ist aktiv zuhören, mehr als höfliche Antworten geben oder gar zu einer intrinsischen Veränderung kommen? Um überhaupt mehr als einen reinen Vortrag zu halten muss ich zum einen versuchen, Sie verbal zu berühren und zum anderen müssen Sie bereit sein, sich berühren zu lassen.

Nehmen wir mal an, Sie säßen als Zuhörer in einem mehr oder weniger langweiligen Vortrag über Berührung. Der Redner gibt sich Mühe oder auch nicht, aber Ihre Gedanken schweifen ab, da ist nichts, was Sie als innerliche Berührung oder gar Transformation bezeichnen könnten. Sind Sie bitte so gut, stellen sich das möglichst intensiv vor und klatschen jetzt alle mal Beifall.

Halbherzig und vorwiegend höflich lassen Sie Ihre Hände aufeinanderprallen und genügen also klatschend der Pflicht, die eher mäßig attraktive Darbietung zu würdigen. Aber wir machen auch gleich die Gegenprobe, versetzen uns noch mal in die Szene, diesmal aber mit Begeisterung für die zahlreichen Denkanstöße, die in uns brodeln und nur darauf warten, bei einem Glas guten Weins weiter durchdacht und mit dem sympathischen Nachbarn oder der sympathischen Nachbarin diskutiert zu werden. Können Sie bitte noch mal einen geradezu euphorischen Befall spenden?

Montag, 26. August 2024

Ein Sommergarten voller Kunst 2024: Berührung (1/3)

Die Formen der Berührung

Guten Tag, meine Damen und Herren. Wir haben uns heute ein universelles, aber auch schwieriges Thema vorgenommen. Ich möchte versuchen, es von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Und Sie dabei mit einbinden, um es zu einer Erfahrung für verschiedene Sinne zu machen.

Sommergarten voller Kunst - Berührung1

Im ersten Moment denke ich als Physiker bei Berührung an das Aufeinandertreffen zweier Körper, Sie erinnern sich bestimmt an den Unterricht in der Schule und wie wir da Kugeln auf dem Tisch hin- und hergerollt haben.

Wer von Ihnen hatte einen guten Physiklehrer? Gegenprobe: Wer hatte einen schlechten Physikunterricht? – Das habe ich mir gedacht. Aber egal wie langweilig und wenig begeisternd der Unterricht war, es ging um ganz elementar einfach mechanische Vorgänge, und dazu gehört eben auch der elastische Stoß. Halten wir an dieser Stelle auf jeden Fall mal fest, dass für eine Berührung mindestens zwei Objekte notwendig sind… ich werde nachher noch einmal darauf zurückkommen.

Warum eigentlich nachher. Wir wollen das jetzt direkt mal ausprobieren. Bitte nehmen Sie ihre rechte Hand mal hoch, etwa auf Brusthöhe. Und jetzt umfassen Sie mit der linken Hand das rechte Handgelenk. Sie merken jetzt, wie die eine Hand die andere berührt, genau genommen berührt die linke Hand die rechte, während die rechte berührt wird.

Sie können sich bewusst auf die rechte Hand konzentrieren und einmal fühlen, wie es sich anfühlt, wenn die Hand berührt wird. Und umgekehrt mal in die linke Hand hineinfühlen, die eine andere Hand berührt. Wir haben also einerseits eine Berührung, eine Gegenseitigkeit und andererseits die Möglichkeit, unsere Aufmerksamkeit gezielt auf die Berührung oder das Berührt-werden zu lenken.

Sie können die Hände wieder herunternehmen, denn wir wollen uns einem anderen Aspekt widmen. Konzentrieren Sie sich bitte mal auf ihr Gesäß. Gerade haben Sie es noch nicht wahrgenommen, aber jetzt wo ich es anspreche fühlen Sie den Sitz unter sich. Es kommt schon seit einiger Zeit zu einer Berührung, die wir aber schon kurz nach dem Hinsetzen gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Das Gefühl ist sozusagen eingeschlafen, und das passiert praktisch nach jeder noch so heftigen Berührung.

Und wo wir gerade bei heftigen Berührungen sind: Auch Schläge sind eine Art Berührung. Keine angenehmen, aber auch hier erleben wir eine Form des Aufeinandertreffens, des Berührens und Berührt-werdens. Wussten Sie, dass etwa jeder sechste Mann und jede siebte Frau sich schon einmal beim Sex spielerisch hat peitschen lassen?

Womit wir beim nächsten wichtigen Punkt angelangt sind. Ausgehend von einer rein mechanischen Handlung, dem elastischen Stoß auf dem Experimentiertisch im Physikunterricht sind wir nun schon recht tief bei der emotionalen Komponente angekommen. Es gibt Berührungen, die wir angenehm, möglicherweise sogar lustvoll finden. Und solche, die wir unangenehm oder sogar verängstigend einstufen. Das gilt für Berührungen im Allgemeinen und ist mehr oder weniger trivial: Sowohl zur Belohnung – Streicheln - als auch zur Bestrafung – Prügel - werden verschiedene Berührungen eingesetzt.

Andererseits kann ein und dieselbe Berührung auch positiv oder negativ behaftet sein. Wenn mir mein Nachbar seine Hand auf den Arm legt kann ich mich peinlich berührt fühlen oder vielleicht heimlich den Wunsch nach mehr Berührung entwickeln. Der rein haptische Eindruck wird von unserem Gehirn in ein ist-schön oder ist-nicht-schön kategorisiert. Es hat, und das möchte ich betonen, nichts mehr mit der eigentlichen Berührung zu tun.

Können wir das bitte alle mal ausprobieren. Legen Sie bitte mal paarweise eine Hand auf die Schulter eines Nebenmannes oder Nebenfrau. Wer seine Hand auflegt fühlt eine Schulter, vielleicht muskulös, vielleicht zart, groß oder klein, schmal oder breit. Und wer umgekehrt eine Hand auf seiner Schulter liegen hat, der nimmt eine mehr oder weniger große Handfläche, Finger, warm oder kalt, und ein gewisses Gewicht wahr. Ob das Berühren oder auch das Berührt-werden ein willkommenes oder ein eher unangenehmes Erlebnis ist, ist natürlich sehr individuell und hängt davon ab, was in unseren Gedanken vor sich geht.

Überhaupt spielt unser Gehirn eine wichtige Rolle beim Management unserer Empfindungen von Berührungen. Denn es hat es mit einer beeindruckend großen Zahl von Reizen zu tun, die alle bewertet, vielleicht aber auch ignoriert werden müssen. Zu der Vielfalt mechanischer Berührungen kommen nämlich noch die anderen Sinne hinzu. Auch der zarte Hauch eines Parfums kann mich in den Bann ziehen, mich berühren. Oder eine Musik der ich lausche, meine Augen schließe und nachher völlig aufgewühlt bin.

Sommergarten voller Kunst - Berührung1

Augen, Ohren, Mund, Nase: Diese Sinnesorgane ergänzen unseren Tastsinn. Und oft kommt das eine zum anderen, wird erst in der Kombination das Erlebnis daraus, das wir in Erinnerung behalten. Die hämmernden Bässe auf dem Rockkonzert beispielsweise sind ein Zusammenspiel aus Hören und Fühlen. Oder sicher erinnern Sie sich an ein besonders leckeres Getränk, das aber nach der Rückkehr aus dem Urlaub in Deutschland ganz anders schmeckt. Die besondere Berührung bestand nicht nur aus einem isolierten Eindruck, den wir vielleicht wiederholen können, sondern aus einer Kombination, einem Kontext.


Montag, 19. August 2024

Ich lauere meinen Handwerkern auf

Ich stehe auf starke Männer. So Typen mit Oberarmen wie Popeye, Stiernacken, breiter Brust und Waden wie Fußballprofis. Ein kleiner Bierbauch ist ok, aber insgesamt eher durchtrainiert. Das sind die Männer, die was wegschaffen, die einen Sack Zement mal eben so mitnehmen, wenn sie ohnehin die Treppe hochlaufen. Oder von mir aus auch unter jedem Arm einen Werkzeugkoffer nach oben transportieren.

Meine Begeisterung für diese Geschöpfe liegt übrigens weniger an einer Sehnsucht nach einem so aussehenden Partner, als vielmehr an meiner ziemlich verzweifelten Suche nach Handwerkern für Arbeiten in Haus und Garten. Geht man den regulären Weg, sind diese Menschen für die nächsten Monate ausgebucht, haben Urlaub, sind krank oder rufen so abgehobene Preise auf, dass man nicht ins Geschäft kommt.

Ich lauere meinen Hanwerkern auf
Zentrale Frage ist nun, wo ich solche Personen finde. Und da kommt mir der Baumarkt in den Sinn. Nicht so sehr im Baumarkt selbst, viel besser ist der Imbissstand davor. Hier, wo sie einen Moment stehen müssen, in der Schlange auf ihre Currywurst warten, am Stehtisch die Pommes konsumieren oder schlichtweg nur einen Kaffee trinken. Egal wie aktiv sie sind und egal, welches Material sie gerade gekauft haben oder gleich kaufen wollen: Sie müssen einen Augenblick innehalten.

Und das ist die Gelegenheit. Langsam löse ich mich von dem Stehtisch, an den ich mich mit meiner Cola postiert habe, nähere mich, um die Gespräche zu belauschen und an Hand der Kleidung und eventuell vorhandenem Werkzeug auf die Fachrichtung zu schließen. Da gerade habe ich einen Installateur ausgemacht, mit seiner kleinen Rohrzange im Engelbert Strauss ist er unverkennbar für die Montage meines Boilers geeignet.

Mehr zufällig schiebe ich mich an ihm vorbei, schaue ihm ganz verdattert ins Gesicht und entschuldige mich, dass ich mich beinahe vorgedrängelt hätte. Was ja gar nicht in meinem Sinne wäre, ja, wenn wir alle bei der Arbeit… apropos Arbeit ob er vielleicht, muss ja nicht über die Firma sein, eine Kleinigkeit für ihn, aber eine riesige Hilfe für mich.

Er zögert, wittert eine Falle und überhaupt hat er keine Zeit, ich könne ja mal seinen Chef anrufen, Telefonnummer steht auf dem Lieferwagen da hinten. Ach was, sage ich, der Chef interessiert mich nicht, und ob er immer das tut, was der Chef so sagt? Meine Frau ist so eine ganz Nette und macht richtig guten Kaffee, naja, wenn er mit dem Kaffee hier am Imbiss zufrieden ist, ist er vielleicht doch nicht mein Mann.

Damit habe ich ihn, zufällig habe ich einen Zettel in der Tasche und finde auch einen Bleistift, um mit ihm die Adressen auszutauschen. Jetzt nur nicht zu professionell, keine Visitenkarten, das muss alles ein wenig improvisiert wirken. Also, diese Woche sicher nicht mehr, aber Anfang kommender Woche kann ich abends mal anrufen, jetzt muss er aber dringend weiter und schönen Tag noch.

Na also, jetzt brauche ich noch einen Elektriker, um den Boiler auch anzuschließen. Elektriker sind etwas schwieriger zu bekommen, ziemlich scheu und eher selten zwischendurch am Büdchen. Also mache ich mich auf den Weg in den Baumarkt, lungere zwischen Kabelrollen, Leerrohren und Sicherungsautomaten herum. Es dauert eine Weile, endlich ein interessanter Kandidat, mindestens einen Kopf größer als ich und mit dicker Brille, aber ansonsten passt er in mein Beuteschema.

Etwas zu lang steht er vor den Kabelschellen, sucht im Regal nach einer Großpackung und beweist damit, dass er kein Heimwerker ist. Zack, stoße ich rückwärts gegen ihn, und: „viel zu kleine Packungen“, raune ich ihm zu, während ich selbst mit dem Finger über das Regal gleite. Durch seine dicken Brillengläser stiert er auf mich herab, er hat einen Zwerg getroffen, der nach seiner Einschätzung planlos im Regal herumgrabbelt.

Einige Minuten und eine kurze Diskussion über Nagelschellen und Schraubschellen später habe ich ihn soweit. Diesmal schaue ich mich ängstlich um, nehme den Abreißblock für Kleinteile, krame unbeholfen einen Kuli aus der Tasche und schon habe ich seine Adresse. Die nachfolgende Verhandlung über den möglichen Einsatzzeitpunkt kann ich durch ein kleines Vorab-Trinkgeld erheblich verkürzen. Es gelingt mir, den Termin mit dem vorher gebuchten Installateur zu koordinieren.

Weiterhin guten Einkauf wünschend schlendere ich weiter. Eigentlich habe ich für heute mein Team akquiriert, aber auf einmal dringen polnische Wörter an mein Ohr. Mit Polen habe ich gute Erfahrungen gemacht, unauffällig schleiche ich mich an mein neues Opfer heran. In dem etwas heruntergekommenen Hosenanzug wirkt er sehr aktiv, der Zollstock in der Seitentasche und der Cutter in der Brusttasche lassen Innenausbau vermuten. Diese Allrounder kann man immer gebrauchen.

Richtig geraten, gerade kommt sein Kumpel mit einem hochbeladenen Einkaufswagen mit Metallständern, Rigips-Schrauben und Spachtelmasse. Gleich zwei, wie praktisch! Leider verlässt mich mein Glück ein wenig, denn sie sprechen wirklich überhaupt kein Deutsch. Aber so leicht entkommen sie mir nicht. Ich eile an der Kasse vorbei zum Ausgang und setze mich auf einen dort platzierten Blumenkübel.

Es dauert noch eine Viertelstunde, aber dann kommen meine Handwerker aus dem Ausgang heraus und schieben den Wagen in Richtung eines ziemlich rostigen Sprinters. Dort angekommen sperren sie die Tür auf und siehe da: Ein dritter Mann wuchtet sich vom Beifahrersitz, mit dem kann ich mich verständigen, mit wenigen Sätzen habe ich erfahren, dass sie hier in der Gegend für kleines Geld spontan in den Häusern herumrenovieren. Wegen der Sprachbarriere läuft es leider noch nicht so mit den Aufträgen.

Volltreffer! Die Rückseite des Kassenzettels muss herhalten für eine Handynummer und ich bestehe darauf, dass ich mir mal die Baustelle ansehen kann, auf der sie gerade tätig sind. Einen Moment halten sie mich für irgendeine Bauaufsicht, aber nachdem ich ihnen ein Bild von meinem Badezimmer gezeigt habe und sie in polnischer Diskussion über das Vorgehen zur Neugestaltung der Fliesen und Duschabtrennung abgestimmt haben, bin ich mit ihnen im Geschäft.

Zufrieden lasse ich sie ihre Ware in den Wagen packen, überlege, ob ich noch weitere Handwerker brauche, ob ich sicherheitshalber noch einen weiteren Installateur oder Elektriker daten soll oder ob ich mein Tagwerk für heute vollbracht habe.

Montag, 12. August 2024

Gewinner und Verlierer

Gewinner und Verlierer

Sicher, wenn man etwas zählen kann, dann ist es kein Problem, ein Ziel zu definieren und einen Gewinner zu küren. Wer eine Sekunde kürzer für eine gewisse Strecke benötigt, der ist schneller, damit besser und am Ende des Wettkampfes der Sieger. Ein klein wenig unklarer ist das bei Spielen, beispielsweise Tennis. Auch hier wird gemäß der Regeln ein "besser" definiert, wer den Ball zu oft ins Aus schlägt verliert das Match. Aber ein wenig Glück ist schon dabei, sind die Schuhe griffig genug, der Schläger für den Gegner richtig gewählt oder Windrichtung und Sonnenstrahlung dem eigenen Spiel zuträglich.

Und dann gibt es Situationen, in denen es keinen Gewinner gibt. Oder zumindest muss man darüber nachdenken, wie man in diesem Fall Gewinnen definiert. Einen Geschäftspartner zu einem höheren Preis zu zwingen ist zwar im ersten Geschäft erfolgreich, das könnte man als Gewinnen bezeichnen. Aber was diese Person im Nachgang anderen potentiellen Kunden erzählt schmälert die erste Freude über das erfolgreich abgeschlossene Geschäft. Wenn sich unlautere Machenschaften herumsprechen kann der Schuss sogar nach hinten losgehen.

Oder nehmen wir das "schwache Geschlecht". Im Durchschnitt haben Frauen weniger körperliche Kraft als Männer, aber es ist zu kurz gesprungen, sie deshalb als Verlierer einzustufen. Durch Geschick, Netzwerk, gelegentlich auch Einsatz der körperlichen Reize lässt sich mancher Nachteil ausgleichen. Ähnlich die schulischen Qualitäten, bei denen Noten sich nicht alleine am Intellekt oder der Beschäftigung mit dem Stoff orientieren, sondern auch von ein wenig Glück in der Prüfung oder geschicktem Mogeln abhängen.

Die wenigsten Menschen sind als notorische Gewinner oder Verlierer geboren. Es lohnt sich, einen Blick auf die eigenen Leistungen und Möglichkeiten zu werfen. Ich sehe blendend aus? Dann ist das eine Eigenschaft, die nicht nur beim Flirt, sondern auch bei Vorstellungsgesprächen nützlich ist. Ich kann überdurchschnittlich schnell schwimmen? Dann ist sportlicher Wettkampf, vielleicht sogar eine Karriere in dieser Richtung denkbar. Und Sympathie, Schlagfertigkeit, Kraft, Scharfsinnigkeit, Geschmack, Gespür für Entwicklungen etc. scheinen einem zwar selbstverständlich (man hat sie ja zum Teil seit der Geburt), sind aber die entscheidenden Faktoren für ein gelungenes Leben.

Praktisch alle Menschen neigen dazu, ihre Nebenqualitäten völlig zu übersehen. Dabei kommt es nahezu immer auf genau diese Eigenschaften an. Bei zwei ansonsten ähnlich geeigneten Bewerbern erhält der den Zuschlag, der ein besseres Timing hat, im richtigen Moment Empathie zeigt oder die attraktivere Kleidung trägt. Oder wer in vielen Vereinen engagiert ist und deshalb den Sohn des Geschäftsführers kennt. Oder sich in gewohnt guter Vorbereitung an die Gepflogenheiten seiner Gastgeber anpasst. Und so weiter.

Das ist kein Zufall, das ist steuerbar. Auch die eigenen Vorzüge muss man erkennen und im richtigen Moment einsetzen. Natürlich auch die eigenen Defizite bestmöglich verdecken, aber damit beschäftigen sich nach meiner Erfahrung wesentlich mehr Menschen als mit dem taktisch geschickten Einsatz ihrer Stärken. Es ist wenig sinnvoll, auf einem Feld in den Wettkampf zu ziehen, in dem man bewusst schlechter ist. Da kann man ja nur verlieren.

Montag, 5. August 2024

Bahntag - Arbeitstag

Da bin ich ja schon ein wenig überrascht. So viele Menschen um mich, die das Frühlingswetter genießen, ein paar Sonnenstrahlen trotzen der doch noch recht winterlichen Kälte.
Es ist noch recht früh, die Reisenden stehen in kleinen Gruppen zusammen, vielleicht um sich zu wärmen oder sich über die letzten Tage, die kommende Woche oder einfach nur über Hobbys zu unterhalten. Von Zeit zu Zeit kommen Durchsagen, Züge sind derzeit nicht in Sicht und wie gewohnt widersprechen sich Lautsprecheransage, Fahrplan und Reise-App.

Bahntag - Arbeitstag

Langsam füllt sich der Bahnsteig, Fahrgäste aus mehreren ausgefallenen Zügen warten darauf, dass es weitergeht. Ich schaue mich um, vielleicht tauchen ein paar Bekannte auf, entweder kann man die Zeit gemeinsam verbringen oder überlegen, wie man mit der misslichen Lage umgeht. In einiger Entfernung steht Thorsten, ich kenne nur seinen Vornamen, wir haben irgendwann mal im Zug zusammen gesessen und uns über die örtliche Gastronomie unterhalten. Ich teile nicht gerade seine Vorliebe für deftige Küche und habe auch nicht so viel Spaß an Schnitzel und Pommes wie er. Allerdings konnte er mir eine gute Pizzeria empfehlen, die meine Frau und ich einige Tage später ausprobiert haben.

In der Menschentraube neben ihm steht eine recht junge Frau mit langen Haaren, lebhaft unterhält sie die Leute um sie herum. Recht temperamentvoll gestikuliert sie mit den Armen, selbst die Beine sind manchmal mit in ihre Darbietung einbezogen. Was sie erzählt, kann ich zwar nicht hören, aber sie scheint kaum Unterbrechungen in ihrem Redefluss zu haben. Immerhin lenkt es bestimmt von Kälte und Warten ab, so dass ihre Zuhörer ihr dankbar an den Lippen hängen. Oder vielleicht ist es auch nur, weil es ihnen Spaß macht, ihre hübsche Erscheinung zu genießen.

Ohne wirklichen Sinn werfe ich wieder einen Blick auf mein Handy, die Bahn-App zeigt wieder irgendwelche neuen Informationen an, Glaubwürdigkeit oder Nutzen für meine weitere Planung sind allerdings eher fragwürdig. Auch andere Reisende hantieren mit ihrem Smartphone herum, drücken darauf herum oder telefonieren mehr oder weniger lautstark mit unsichtbaren Gesprächspartnern. So wie der Jurist in unmittelbarer Nähe, der vorhin mit seiner Sekretärin gesprochen hat. Ja, Termine müssen umgelegt und Mandanten vertröstet werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Emil Maier Recht wäre, wenn sein Fall unüberhörbar mit diversen Details auf einem vollen Bahnsteig dargelegt wird. Aber das scheint den Rechtsanwalt nicht zu stören, nachdem er auch seine Frau über die Probleme seiner heutigen Bahnfahrt informiert hat, hat er schon wieder sein Handy in der Hand.

Ich bin tatsächlich neugierig, wen er jetzt anruft und welche persönlichen Informationen er diesmal verteilt. Es scheint wieder seine Sekretärin zu sein, da es um Fälle und Akten geht, aber seine Stimme wechselt dann doch zu einem weicheren Ton, für seine Verhältnisse möchte ich es fast flüstern nennen. Und ja, jetzt wechselt auch das Thema, es geht um die Mittagspause und irgendein "danach", das soll die heutige Bahnfahrt nicht verhindern, fast flötend fallen Begriffe, die sich ziemlich deutlich nach Seitensprung anhören. Nach der unaufgeforderten Details über Emil würde es mich nicht wundern, wenn ich jetzt auch Einzelheiten über sein außereheliches Liebesleben erführe.

Aber so weit kommt es nicht, denn völlig überraschend setzt sich die Menschenmenge auf dem Bahnsteig nun doch in Bewegung, auf dem Nachbargleis soll ein Zug abfahren, er fährt zwar nur einige Stationen weit, aber besser als nichts, man muss die Züge nehmen wie sie kommen. Ich reihe mich ein, Schritt für Schritt und Stufe für Stufe die Treppe hinunter, durch den Tunnel und auf der anderen Seite wieder hoch. Durch die Verlegung bin ich jetzt in der Nähe der lebhaften Frau, sie berichtet über die Erziehung ihrer Tochter, eigentlich hätte ich darauf kommen können. Sie gehört zu den Menschen, die alles richtig machen, nur dass leider das Ergebnis nicht immer danach aussieht. Entsprechend scheint sie es als ihre Pflicht anzusehen, Erziehungsansätze und Erlebnisse mit ihrem Kind zu berichten, damit andere von ihrer Professionalität profitieren können.

Gerne hätte ich ihren Tipps noch weiter gelauscht, zumal ihre Tochter vermutlich ähnlich lebhaft und diskussionsfreudig sein dürfte wie ihre quirlige Mutter. Aber jetzt kommt der Zug, ich schiebe mich in Richtung Tür und kann tatsächlich noch einen Stehplatz im Inneren ergattern. Eingepfercht zwischen dick eingemummelten Mitreisenden höre ich noch voller Freude die Durchsage, dass der Zug entgegen der Planung nun doch durchfährt und nicht an der nächsten Station endet. Schön, denke ich, dann kann der Arbeitstag ja doch noch starten.