Da bin ich ja schon ein wenig überrascht. So viele Menschen um mich, die das Frühlingswetter genießen, ein paar Sonnenstrahlen trotzen der doch noch recht winterlichen Kälte.
Es ist noch recht früh, die Reisenden stehen in kleinen Gruppen zusammen, vielleicht um sich zu wärmen oder sich über die letzten Tage, die kommende Woche oder einfach nur über Hobbys zu unterhalten. Von Zeit zu Zeit kommen Durchsagen, Züge sind derzeit nicht in Sicht und wie gewohnt widersprechen sich Lautsprecheransage, Fahrplan und Reise-App.
Langsam füllt sich der Bahnsteig, Fahrgäste aus mehreren ausgefallenen Zügen warten darauf, dass es weitergeht. Ich schaue mich um, vielleicht tauchen ein paar Bekannte auf, entweder kann man die Zeit gemeinsam verbringen oder überlegen, wie man mit der misslichen Lage umgeht. In einiger Entfernung steht Thorsten, ich kenne nur seinen Vornamen, wir haben irgendwann mal im Zug zusammen gesessen und uns über die örtliche Gastronomie unterhalten. Ich teile nicht gerade seine Vorliebe für deftige Küche und habe auch nicht so viel Spaß an Schnitzel und Pommes wie er. Allerdings konnte er mir eine gute Pizzeria empfehlen, die meine Frau und ich einige Tage später ausprobiert haben.
In der Menschentraube neben ihm steht eine recht junge Frau mit langen Haaren, lebhaft unterhält sie die Leute um sie herum. Recht temperamentvoll gestikuliert sie mit den Armen, selbst die Beine sind manchmal mit in ihre Darbietung einbezogen. Was sie erzählt, kann ich zwar nicht hören, aber sie scheint kaum Unterbrechungen in ihrem Redefluss zu haben. Immerhin lenkt es bestimmt von Kälte und Warten ab, so dass ihre Zuhörer ihr dankbar an den Lippen hängen. Oder vielleicht ist es auch nur, weil es ihnen Spaß macht, ihre hübsche Erscheinung zu genießen.
Ohne wirklichen Sinn werfe ich wieder einen Blick auf mein Handy, die Bahn-App zeigt wieder irgendwelche neuen Informationen an, Glaubwürdigkeit oder Nutzen für meine weitere Planung sind allerdings eher fragwürdig. Auch andere Reisende hantieren mit ihrem Smartphone herum, drücken darauf herum oder telefonieren mehr oder weniger lautstark mit unsichtbaren Gesprächspartnern. So wie der Jurist in unmittelbarer Nähe, der vorhin mit seiner Sekretärin gesprochen hat. Ja, Termine müssen umgelegt und Mandanten vertröstet werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Emil Maier Recht wäre, wenn sein Fall unüberhörbar mit diversen Details auf einem vollen Bahnsteig dargelegt wird. Aber das scheint den Rechtsanwalt nicht zu stören, nachdem er auch seine Frau über die Probleme seiner heutigen Bahnfahrt informiert hat, hat er schon wieder sein Handy in der Hand.
Ich bin tatsächlich neugierig, wen er jetzt anruft und welche persönlichen Informationen er diesmal verteilt. Es scheint wieder seine Sekretärin zu sein, da es um Fälle und Akten geht, aber seine Stimme wechselt dann doch zu einem weicheren Ton, für seine Verhältnisse möchte ich es fast flüstern nennen. Und ja, jetzt wechselt auch das Thema, es geht um die Mittagspause und irgendein "danach", das soll die heutige Bahnfahrt nicht verhindern, fast flötend fallen Begriffe, die sich ziemlich deutlich nach Seitensprung anhören. Nach der unaufgeforderten Details über Emil würde es mich nicht wundern, wenn ich jetzt auch Einzelheiten über sein außereheliches Liebesleben erführe.
Aber so weit kommt es nicht, denn völlig überraschend setzt sich die Menschenmenge auf dem Bahnsteig nun doch in Bewegung, auf dem Nachbargleis soll ein Zug abfahren, er fährt zwar nur einige Stationen weit, aber besser als nichts, man muss die Züge nehmen wie sie kommen. Ich reihe mich ein, Schritt für Schritt und Stufe für Stufe die Treppe hinunter, durch den Tunnel und auf der anderen Seite wieder hoch. Durch die Verlegung bin ich jetzt in der Nähe der lebhaften Frau, sie berichtet über die Erziehung ihrer Tochter, eigentlich hätte ich darauf kommen können. Sie gehört zu den Menschen, die alles richtig machen, nur dass leider das Ergebnis nicht immer danach aussieht. Entsprechend scheint sie es als ihre Pflicht anzusehen, Erziehungsansätze und Erlebnisse mit ihrem Kind zu berichten, damit andere von ihrer Professionalität profitieren können.
Gerne hätte ich ihren Tipps noch weiter gelauscht, zumal ihre Tochter vermutlich ähnlich lebhaft und diskussionsfreudig sein dürfte wie ihre quirlige Mutter. Aber jetzt kommt der Zug, ich schiebe mich in Richtung Tür und kann tatsächlich noch einen Stehplatz im Inneren ergattern. Eingepfercht zwischen dick eingemummelten Mitreisenden höre ich noch voller Freude die Durchsage, dass der Zug entgegen der Planung nun doch durchfährt und nicht an der nächsten Station endet. Schön, denke ich, dann kann der Arbeitstag ja doch noch starten.
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