Sonntag, 23. Februar 2025

Schau mich mal an!

Immer wenn ich durch den Hauptbahnhof eile, fällt mir auf, wie viele Fahrgäste nach oben, unten, seitlich gucken. Nur nicht nach vorne. Sicher, wenn ich im Voraneilen die Bahnsteiginformationen lesen muss, nach dem Seitenausgang Ausschau halte oder ins Gespräch mit einem Anderen vertieft bin: Dann ist das schon nachvollziehbar. Aber in vielen Fällen steckt eine andere Intuition dahinter.

Schau mich mal an
Rumms, läuft ein Passant gegen mich, der bis gerade auf den Boden geschaut hat. Wütend sieht er mich an "Können Sie nicht ausweichen?" faucht er. Naja, zu so einer Kollision gehören zwei Parteien, warum hätte ich ausweichen müssen? Ganz einfach: Weil er mich ja nicht gesehen hat, konnte er ja nicht, denn schließlich war sein Blick auf den Boden gerichtet. Da ich nun wiederum den Bereich vor mir registriert habe, wäre es logischerweise an mir gewesen beiseite zu treten.

Was auf den ersten Blick zwingend konsequent erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als trügerisch. Wenn mein Gegenüber vorsätzlich nach unten gesehen hat, um seinen geradlinigen Weg zu erzwingen, dann sieht die Sache anders aus. Man kann ihm ja nicht vorwerfen, dass er mich absichtlich gerempelt hat, wohl aber, dass er absichtlich weggeschaut und damit mich zum Ausweichen gezwungen hat.

Auch mit Träumern kann man leicht zusammenstoßen. Früher hätte man sie als Hans-Guck-in-die-Luft bezeichnet, heute sind diese Menschen in die Betrachtung ihres Handys vertieft. Mehr oder weniger wichtige Inhalte wollen angeschaut oder mitverfolgt werden. Das scheint auch keinen Aufschub zu dulden oder auf die Fortbewegung in weniger belebten Umgebungen warten zu können.

Unabhängig vom Auslöser und der Intention bin aber am Ende ich der Gelackmeierte. Da meine Sinne wach sind, ich keine hochpriore Kommunikation führen muss und auch nicht in eine andere Richtung schaue, darf man von mir erwarten, dass ich den Weg freimache. Immer wieder, auch beim Passanten dahinter und überhaupt gegenüber dem gesamten Menschenstrom, der sich mir entgegenwälzt.

Bin ich erst mal ausgewichen, werde ich zunehmend zur Flipperkugel zwischen den hin- und herlaufenden Personen. Fast möchte ich den Gesichtsausdruck des Gegenverkehrs so interpretieren, dass ich begründen muss, warum das bisherige Ausweichen nun auf einmal nicht mehr stattfindet. Meinem Vordermann bist du ausgewichen, warum springst du mir nicht auch aus dem Weg?

Die Schwarmintelligenz führt dazu, dass sich ein geeigneter Lösungsansatz herumspricht, Schule macht und mit der Zeit zu einem Kulturgut entwickelt. Egal, ob ich es eilig habe oder nicht, einfach zu Boden schauen und voranstürmen. In Abwandlung des Spieles in meiner Jugendzeit („Wer bremst verliert“) kann man hier sagen: Wer aufschaut, muss mit Gegenverkehr und Kollision rechnen.

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