Sonntag, 29. Dezember 2019

Wir sind alle Flüchtlinge (2015)

Beim ersten Ton des Weckers springe ich aus dem Bett. So eine Art vorsenile Bettflucht. Dann laufe ich rüber ins Bad, versuche dem kalten Brausestrahl zu entgehen und umrunde mit der Zahnbürste die empfindlichen Zahnhälse. Auf dem Weg zum Bahnhof weiche ich dem Gegenverkehr aus, überquere nach der Bahnfahrt die große Kreuzung vor dem Bürogebäude und meistere mit elegantem Schwung das Drehkreuz am Empfang.

Bevor ich den Aufzug erreiche fliehe ich vor dem morgendlichen Geschwätz einer Kollegin in einen anderen Lift. Aussteigend entgehe ich mit knapper Not den neugierigen Fragen eines Bekannten und rette mich schließlich an meinen Schreibtisch. Zum Mittagessen beantrage ich Asyl bei den bereits verabredeten Kameraden, gemeinsam schließen wir uns dem Menschenstrom zur Kantine an.
Der Nachmittag zieht sich endlos dahin, aber mit Hilfe meines Abteilungsleiters gelingt es mir, Bedenken gegen neue Prozesse im Team zu zerstreuen.

Nach bangem Warten auf einen unangenehmen Anruf verlasse ich zum Dienstende meinen Arbeitsplatz, stürze voller Sorge vor heranziehendem Regen zur S-Bahn, um mich schließlich zu Hause auf das Sofa fallen zu lassen, Ziel erreicht.

Sind wir nicht alle Flüchtlinge? Ja. Nein.
Wie klein sind unsere Fluchten im Alltag, wie unwichtig ist die Sorge um den trockenen Anzug gemessen an tausenden von Kilometern durch unbekanntes Land aus Todesangst vor den Schergen im Bürgerkrieg.

Wir haben da eine besondere Verantwortung. Erstens reklamieren wir für uns als Genossen eine ausgeprägte soziale Kompetenz. Und zweitens legen wir Wert auf Nachhaltigkeit, seit über 130 Jahren. Einmal mehr können wir beweisen, dass wir über den aktuellen Tag hinausdenken. Und das nicht nur bei Finanzen, sondern auch bezüglich der Flüchtlinge und deren Zukunft.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen