Montag, 19. Dezember 2022

Früher war alles besser - oder auch nicht (Teil 1)

Von Zeit zu Zeit steigert man sich in nostalgische Rückblicke. Da erscheint die Jugend als goldene Ära, das Studium ein lockeres Studentenleben und die ersten Jahre im Beruf noch spannend.

Früher war alles besser oder auch nicht Teil 1
Besonders das Telefonieren habe geliebt. Der Apparat stand im Flur der WG, man musste aufpassen, wann er frei war um es dann am viel zu kurzen Kabel bis gerade hinter die Zimmertür zu schleppen. Anschließend in der kleinen Kladde die Einheiten notieren, nein, vorher noch kontrollieren, ob der Vorgänger sein Gespräch eingetragen hatte. Wie lieblos sind dagegen die heutigen Einzelverbindungsnachweise, die Buchführung mit Excel oder gar Flatrates.

Ansonsten war es immer so schön, wenn man bei Nieselregen auf dem Fahrrad durch die Straßen fuhr auf der Suche nach einer unbesetzten Telefonzelle. In der allerdings mindestens einer der Groschen (20 Pfg für ein Ortsgspräch) permanent durchfiel. Oder sie war von einem Dauertelefonierer besetzt, der im Trockenen der Zelle vor sich hin plapperte. Nein, ich möchte das wirklich nicht missen, die 24/7-Erreichbarkeit und mein Handy – Verzeihung: Smartphone – ist völlig entbehrlich.

Die Brotauswahl war viel einfacher. Da gab es dunkles Brot, helles Brot und Brötchen, bei unserem Bäcker auch noch Weckchen. Das war das komplette Angebot, man hatte nicht die Qual der Wahl. Am Marktstand gab es kein Obst, bei dem man erst mal recherchieren musste, wie es zu essen ist. Exotisches Gemüse braucht kein Mensch, deutscher Kohl tut es schließlich auch.

Und den möchte ich bei jemand kaufen, der mich kennt. Der über den Dorfklatsch Bescheid weiß, in dem ich natürlich (unfreiwillig) auch eine Rolle spiele. Information gegen Information, ungefragte Beratung in allen Lebenslagen inbegriffen. Und die Wahrheit muss ja nun wirklich nicht immer eine entscheidende Rolle spielen, wichtiger ist das bunte Ausmalen oder auch Streuen von Gerüchten, vornehmlich zu intimen Details.

Was das Kochen angeht, so brauche ich von Gerichten keine Fotos. Die Vorstellungskraft wird gefördert, wenn man zerfledderte Kochbücher ohne Bilder durchliest. Nur Simpel brauchen Chefkoch.de, wo sich aus allen Ritzen der Republik Hobbyköche verbünden und Tipps austauschen. Nein, ich konnte mich immer auf die Empfehlungen meiner Gemüsefrau oder des Metzgers verlassen. Deren kochtechnische Erfahrung war umfassend, ließ sich nicht weiter steigern und duldete keinen Widerspruch.

Doch, doch, das Leben war leicht, insbesondere wenn man an einen bis dato unbekannten Ort fahren wollte. Dafür war Kartenlesen angesagt, Wegbeschreibung austauschen und dann doch verfahren. So konnte man die Gegend kennenlernen oder bei Dunkelheit in verlassenen Orten eine lebende Seele suchen, die einem einen Tipp für die Orientierung geben konnte. Wer braucht ein Navi, wenn man in der Dorfkneipe angetrunkene Bekanntschaften knüpfen kann, die einem vom Weiterfahren abraten: „Da wolln se hin? Da wohnenen nur Iddioden.“

Echtes Highlight waren die Besuche in der Volksbank. Ein strenger älterer Herr schaute mich mit durchdringendem Blick an, wenn ich ein wenig Geld von meinem Sparbuch abheben wollte. „Junge, wofür brauchst du denn das Geld?“ Und: „Wissen deine Eltern davon?“. Ich war mittlerweile erwachsen, aber die fürsorgliche Betreuung des Kundenberaters weiß ich bis heute zu schätzen. Kein schnöder Geldausgabeautomat, der mir ohne zu zucken hunderte Euro ausgibt ohne nach dem Ziel meiner Abhebung zu fragen.

War das nicht alles wundervoll, ach, ich bekomme ganz glänzende Augen bei diesen Gedanken. Ein paar goldene Erinnerungen, schön war sie, die Zeit damals.

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Sonntag, 4. Dezember 2022

Wer bewegt sich eigentlich?

Gemütlich sitze ich im ICE, schaue den Gang entlang auf die Anzeige. Ich merke überhaupt nicht, dass sich der Zug mit fast 200 Stundenkilometern bewegt. Ein Blick aus dem Fenster: Die Landschaft zieht ruhig an mir vorüber, lediglich das hektische Passieren der Strommasten lässt mich erahnen, wie zügig wir unterwegs sind.

Wer bewegt
Andererseits ist der Sitz vor mir ganz ruhig, er bewegt sich (relativ zu mir) gar nicht. In dem dahinrasenden Zug kann ich auch zum Speisewagen gehen ohne einen Spurt einlegen zu müssen. Und ich habe den Eindruck, dass die Häuser entlang der Strecke in Bewegung sind, obwohl sie doch fest gemauert sind und der Zug an ihnen vorbeifährt. Die Bewegung ist eben relativ, das ist für mich ganz selbstverständlich.

Doch die Selbstverständlichkeit endet, wenn es um den eigenen Lebensweg geht. Da sitze ich bildlich auch im Zug, Mitmenschen, Szenen, Arbeitsstellen und Beziehungen ziehen an mir vorbei. Und wie bei der Eisenbahn ist auch hier die Bewegung relativ. Nicht mein Umfeld zieht an mir vorbei, nein, ich bin es, der voranschreitet. Meine Freundschaften kommen und gehen. Orte und Lebensphasen wie die Schulzeit verändern sich nicht (oder nur wenig), nur dass ich nicht mehr Teil davon bin. Die hohen Bäume im Wald haben schon so manchen Wanderer gesehen und recken möglicherweise ihre Zweige auch noch lang nach meinem Tod in die Gegend.

Die Vergänglichkeit des Augenblicks und des gesamten Lebens ist aber nur ein Teil. Daneben steht das vorübergehende Tangieren anderer Leben, anderer Umstände. Wer mehrmals an denselben Urlaubsort fährt erlebt das sehr anschaulich. Sei es, dass dort „die Zeit stehengeblieben“ ist, sei es, dass man sich gar nicht mehr zurechtfindet. Im ersten Fall passiere ich mit meinem ICE wieder den Regionalzug, im zweiten Fall ist es umgekehrt.

Montag, 28. November 2022

Warum sollte ich blinken?

Zweifellos ist es eine Last, wenn man auf der Autobahn unterwegs ist und es mit Blinkmuffeln zu tun hat. Das sind die Autofahrer, die auf jegliches Blinken verzichten, sozusagen schweigsam unterwegs oder einfach unbedacht sind und vielleicht mal wieder erinnert werden sollten. Verträumt, möglicherweise die Straßenverkehrsordnung nicht mehr im Kopf, über die Jahre ein wenig träge geworden oder lässig und cool.

Wenn man diese Fraktion der Autobahnbenutzer zur Ordnung bringen will, dann sollte man ihnen nahelegen, auch an die Anderen zu denken, den Sinn dieser Vorschrift in den Mittelpunkt stellen und sie freundlich ermahnen. So zumindest sieht es der ADAC, macht Aufmerksamkeits-Kampagnen, schreibt wohlwollende Artikel in seiner Clubzeitschrift und lässt Verkehrspsychologen zu Wort kommen.

Warum sollte ich blinken?
Doch möglicherweise liegt hier ein Denkfehler vor. Die Nichtblinker sind gar nicht vergesslich, auch nicht besonders cool oder unbedacht. Nein, sie haben gelernt, dass Blinken nicht selten Nachteile mit sich bringt. Wer frühzeitig das Signal gibt, dass er auf die Überholspur wechseln möchte, der kann fast sicher sein, dass der Hintermann Gas gibt, um vor dem Spurwechsel noch vorbei zu schlüpfen. Ähnlich beim angezeigten Abbiegevorgang in der Stadt, da saust der Gegenverkehr noch schnell in die Lücke, schneidet die Vorfahrt einfach ab.

Nach einem solchen Lernprozess setze ich also an einer ganz falschen Stelle an, wenn ich die Einsicht fördern will oder meine, die Vorgaben in Erinnerung bringen zu müssen. „Da wäre ich ja schön blöd“, oder „warum sollte ich blinken“ sind die erwartbaren Reaktionen der so Belehrten.

Mehr noch, ich setze eventuell bei der falschen Zielgruppe an, denn nicht die Blinkmuffel sind das eigentliche Problem, sondern die Rücksichtslosen, die ein blinkendes Fahrzeug als Gefahr für ihre freie Bahn empfinden. Denn leider haben sie nicht verstanden (oder vergessen), dass beim Spurwechsel das Fahrzeug von der rechten Spur grundsätzlich vorgelassen werden muss. Und auch der Rechtsabbieger mit Anhänger leider vor dem linksabbiegenden Sportwagen Vorfahrt hat.

Wenn man – in welchem Umfeld auch immer – Missstände entdeckt, dann ist die Behandlung der Symptome meist wenig erfolgreich oder geht sogar in die falsche Richtung. Bevor man konkrete Maßnahmen ergreift, ist die Identifikation des tatsächlichen Auslösers von grundlegender Bedeutung. Und genau dort – bei den Auslösern – muss man ansetzen. Damit man nicht mehr der Dumme ist, wenn man blinkt.

Dienstag, 22. November 2022

Die Entjungferung der Customer Journey

Sie kennen bestimmt auch diese Entjungferung von Begriffen. Bis zu irgendeinem Zeitpunkt ist ein Wort mehr oder weniger neutral, man verbindet kein spezielles Bild damit oder gar eine eigene Geschichte. Und dann passiert etwas, was ebendiese Bedeutungslosigkeit beendet. Vor Jahren fuhr ich durch Wiesbaden, von der Platte kommend rechts in eine Straße, die mir vom Navi angesagt wurde. "Unter den Eichen", und ich dachte spontan nicht an die Bäume, sondern an die Verkleinerungsform von Ei. Und da bekommt dieser Name eine ganz andere, sagen wir mal erotische, Bedeutung. Ich erkannte natürlich sofort meinen Irrtum, aber seither kann ich nicht mehr dort entlang fahren ohne dieses Bild vor Augen und ohne zu schmunzeln.

Die Entjungferung der Customer Journey
Und heute Morgen war es dann auch wieder so weit. Ich hatte ausnahmsweise mein Homeoffice verlassen und wollte zum Schreibtisch in Frankfurt fahren. Mit der Bahn also, was sich zunächst auch gut anließ, fuhr der Zug doch pünktlich los und legte auch den ersten Teil der Strecke in der vorgesehenen Zeit zurück. In die Zeitung vertieft registrierte ich nur am Rande, dass wir dann vor Höchst einen unplanmäßigen Halt einlegten. Und dort eine gute Weile standen, uns in den Bahnhof vorarbeiteten, wo dann der nächste längere Stopp war.

Nun, ich will nicht alle Details ausführen - regelmäßige Bahnfahrer kennen die Vielfalt der Meldungen und Begründungen, warum Züge ausfallen, verspätet sind, unvermittelt enden oder umgeleitet werden. Sie machen eine (wie es im modernen Jargon der Vertriebler heißt) Customer Experience, eine Kundenerfahrung. Was eigentlich positiv nach Erlebnis klingen soll, angesichts der Verfünffachung der Fahrzeit aber eher im Sinne eines Traumas wahrgenommen wird.

Noch lustiger, weil doppeldeutig und in diesem Fall auch so völlig unpassend ist der Begriff der Customer Journey. Stimmt schon, es ist eine Kundenreise, doch leider nicht als spaßige Tour durch die wundervolle Welt der Produkte mit einem Glücksmoment am Schluss. Nein, es ist eine unerwünschte Abenteuerreise, eingebettet in ein verärgertes Umfeld und hektische Versuche, trotz Funkloch Kontakt mit dem Büro aufzunehmen und Termine zu verschieben.

Und so erweitere ich - herzlich willkommen - meine Sammlung der Begriffe, die ihre Unschuld verloren haben.

Montag, 14. November 2022

Der Vogel Strauß in mir

Kaum ist die Uhr umgestellt – Winterzeit – kann ich wieder ungestört im Badezimmer herumlaufen. Das große Fenster ist ganz dunkel, da kann mich ja keiner sehen, wie ich mir gerade die Zähne putze oder mich rasiere.

Obwohl, das stimmt nicht ganz. Eigentlich stimmt es überhaupt nicht. Sogar im Gegenteil. Wenn es draußen hell ist fühle ich mich wie auf dem Präsentierteller. Aber keiner schaut herein, weil das Badezimmer gegenüber dem hellen Sonnenlicht eher dunkel ist. Ist es draußen jedoch dunkel, dann fällt das erleuchtete Fenster jedem Passanten ins Auge.

Der Vogel Strauß in mir
Wie der Vogel Strauß gehe ich von meiner eigenen Wahrnehmung aus. Wenn das Fenster für mich dunkel ist, dann schaut doch auch keiner herein.

Noch einen Schritt weiter gibt es auch Dinge, die ich selbst nicht sehen will oder die für mich nicht besonders wichtig sind. Die nackte Glühbirne, die seit dem Einzug vor geraumer Zeit von der Decke baumelt fällt mir nicht auf, nein, ich will sie eigentlich gar nicht sehen, weil sie mich an die noch aufzuhängende Lampe erinnert. Jeder Gast wird sich allerdings fragen, warum da noch Rohbau-Restanten zu sehen sind.

Wer keinen Wert auf schöne Kleidung legt kann das natürlich für sich so entscheiden. Aber viele Mitmenschen werden aus der äußeren Erscheinung ein Urteil ableiten. Wegschauen oder einen Bogen um den Spiegel machen bringt nichts – wie beim Vogel Strauß.

Man würde sich überfordern, wenn man alles an und um sich sieht und steuert. Aber eine ausgeprägte Aufmerksamkeit empfiehlt sich, und unersetzlich in diesem Zusammenhang ist auch ein regelmäßiger Perspektivenwechsel. Sei es nun wörtlich (wie beim Beispiel mit dem beleuchteten Badezimmer) oder in Gedanken (wie bei der Kleidung). 

Sonntag, 6. November 2022

Guten Morgen

Guten Morgen

Die Sonne lacht mir ins Zimmer „guten Morgen“, ich frage mich, ob sie es ernst meint. Da liegt ein Wochenende hinter, eine Arbeitswoche vor mir. Und da soll ich einen guten Morgen haben? Ein wenig Hohn vielleicht in ihrem grinsenden Gesicht, oder steckt vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit darin?

Ich blinzele zum Fenster, noch ein wenig schlaftrunken erst das eine Auge, dann das andere. Die Gedanken sammeln sich, kann ich mich an Träume erinnern? Süße Erinnerungen an das Wochenende, an den Sonntag in Müßiggang. Aber jetzt ist Montag, die Arbeit ruft und mit ihr der Ernst des Lebens.

Meine Gedanken sind noch ein wenig schläfrig, nur langsam lassen sie sich auf meine Führung ein. Was liegt denn vor mir, was ist für den Tag geplant, was wird alles auf mich einströmen? Da sind Besprechungen, kleine spannende Herausforderungen, aber auch langweilige Routinearbeiten. Mal wieder dies, aber zur Abwechslung auch mal das.

Insgesamt eine bunte Mischung an Aufgaben, viel zu tun, aber nicht alles zu schaffen. Dafür ist der Kalender zu voll und die Liste der Todos zu lang. Ich denke nach, und dann überfällt mich ein Gefühl der Gelassenheit. Der Tag mag kommen, ich werde ihn meistern, Dinge, die ich verändern kann werde ich versuchen zu beeinflussen – und was nicht geht: das werde ich zulassen.

Ich schließe noch mal die Augen, konzentriere mich auf das Gefühl des Kissens, auf dem ich liege, auf die Decke, die mich umschließt und den Atem, der in regelmäßigen Zügen aus meiner Nase strömt.

Nein, denke ich, ich werde nicht mit Panik in den Tag starten, Panik, dass ich die allzu vielen Aufgaben per definitionem gar nicht schaffen kann, sondern ich werden schauen, was geht und den Rest auf morgen vertagen.

Ja, denke ich, die Überschrift des Tages wird Gelassenheit sein. Nicht nur Souveränität, sondern das Verständnis, dass das Leben lebenswert ist, jeder Tag ein Unikat, das sich nicht wiederholt.

Ich schließe noch mal ganz fest die Augen, reiße sie auf, springe aus dem Bett und weiß, dass die Sonne recht hatte: Es wird ein guter Morgen (und ein guter Tag).

Montag, 31. Oktober 2022

Oldtimer: I'm in Love With My Car

Gerade bei Menschen, die sich im Laufe der Jahre fast jeden Wunsch erfüllt haben erlebe ich häufig eine ausgeprägte Freude an Oldtimern. Da bekommen Mitfünfziger leuchtende Augen, Frührentner geraten ins Schwärmen und Greise geraten noch mal richtig in Fahrt. Was wohl dahinter steckt?

I'm in Love With My Car
Ein Freund erzählte mir jüngst, dieses urtümliche Fahrerlebnis sei der Kern seiner Leidenschaft. Man fühlt noch die Straße, erfährt körperlich jede Unebenheit der Strecke, Bremsen ist Entgegenstemmen und Lenken ein Kraftakt. Keine Helferlein wie Servolenkung, Bremskraftverstärker, Stabilisatoren und Federungsadaptoren, nein, Autofahren als Erlebnis mit allen Sinnen.

Ach, möglicherweise ist es aber eher die Freude an der Pflege. Das alte Vehikel kann man hegen und streicheln, sich liebevoll um Ersatzteile bemühen, mit anderen Autovätern Kontakt aufnehmen. Der legitime Nachfolger für Kinder, auf den die Partnerin noch nicht mal wirklich eifersüchtig sein kann. Es ist ja nur ein Auto, das man liebt.

Oder ist es doch eher noch mal jung zu sein, die Suche nach dem Abenteuer, wenn man mit dem altersschwachen Käfer über die Landstraße gebrettert ist. Die schönste Zeit war doch die Kameradschaft beim Bund, die Zelturlaube mit der Clique; Und eben auch die Erlebnisse auf der Rücksitzbank im Ford Capri. Was dann immer komfortabler wurde mit gigantischen Events und Kreuzfahrten, nur so lustig war es nie wieder. Auch beim Auto nicht.

Für den, der alles hat, sagt mein Freund, und für jeden Geldbeutel. Für Bastler genauso wie für Sonntagsfahrer. Nur die tägliche Nutzung, die ist doch eher die Ausnahme. Zum einen, weil man sein Schätzchen damit überstrapaziert, zum anderen, weil es eben doch eher eine Sondersituation ist. Da ist man nach dem Wochenende dann doch froh, wieder im modernen SUV zu sitzen.

Montag, 24. Oktober 2022

Auch in der Drehtür immer geradeaus

Auch in der Drehtür immer geradeaus
Ich lasse mich ja auch manchmal verführen. Durch die Halle laufe ich auf die Drehtür zu, die den öffentlichen Teil vom Bürogebäude trennt. Langsam drehen sich die Flügel, ich passe einen günstigen Moment ab und betrete den runden Bereich. Und genau jetzt bin ich versucht, der rotierenden Glasscheibe in einem Kreisbogen zu folgen statt einfach nur langsam geradeaus vorwärts zu gehen. Ich schaue auf den Boden und stelle fest, dass ich die Rotation gar nicht mitmachen muss, sondern mit reduzierter Geschwindigkeit meinen eigenen Weg in gerader Richtung fortsetzen kann.

Bin ich da ein bisschen Lemming? Immerhin bin ich durch die Halle ja auch nicht in Schlangenlinien gelaufen, habe den direkten Weg gewählt. Nun auf einmal sehe ich die Drehbewegung und schon meine ich, ihr folgen zu müssen, ganz unbewusst.

Bei der Sitzung vorhin ist es mir eigentlich ähnlich gegangen. Meine Gedanken waren ganz strukturiert, ich war gut vorbereitet und hatte mein Datenmaterial in der Mappe dabei. Aber kaum ging die Besprechung los, waberte die Unterhaltung zwischen den Themen hin und her und ich begann ihr zu folgen. Wie der Drehtür.

Dabei hätte ich doch einfach meine gedankliche Geschwindigkeit verringern und mich mit ein paar freundlichen Worten auf die laufenden Gespräche einlassen können, um dann unbeirrt meine Überlegungen und Argumente vorzubringen.

Wobei ich wie bei der Drehtür natürlich nicht unvermindert voranschreiten kann, denn dann würde ich gegen die Scheibe prallen beziehungsweise die anderen Sitzungsteilnehmer geistig abhängen. Nur ist eben die Geschwindigkeit das eine, die Richtung das andere. Es kommt also darauf an, sich hier nicht beirren oder von einem bewegten Umfeld ablenken zu lassen.

Montag, 17. Oktober 2022

Wie die Beeren in der Traube

Morgens zum Frühstück gibt es Trauben (als Ergänzung zum Joghurt). Und beim Einkauf dieser Tage habe ich eine dunkle Sorte mit besonders aromatischen Beeren erworben. Jede dieser Früchte ist eine kleine Delikatesse, einziges Manko: Sie lösen sich nur widerspenstig vom Stiel. Man muss jede einzelne Beere greifen und vorsichtig abziehen. Aber das Geschmackserlebnis entschädigt für diese kleine Mehrarbeit, der Genuss ist mir wichtiger als die einfache Vorbereitung. Also versuche ich auch nächste Woche wieder diese Sorte zu bekommen (auch wenn die grünen Trauben leichter abgehen).

Wie die Beeren in der Traube
Übrigens kennen wir das auch von politischen Parteien. Da kann man auch nur ein zusammenhängendes Paket wählen. Da ist dann bei Partei X zwar die Wirtschaftspolitik überzeugend, aber die Aussagen zur Gesundheitspolitik sind mir nicht so recht. Zusammen mit ihrem Antritt zur sozialen Sicherung passt es mir aber insgesamt doch besser als Partei Y, die mit ihrer außenpolitischen Strategie so gar nicht meinen Grundsätzen entspricht.

Ich wähle also – sowohl bei den Trauben (Vorrang für den Geschmack) also auch bei Parteien (Vorrang für Wirtschaft und soziale Sicherung) – eine Kombination von Eigenschaften. Diese Kombination kann ich nicht beeinflussen, ich muss die aus meiner Sicht beste Zusammenstellung wählen. 

Die Entscheidung kann man grundsätzlich sehr strukturiert angehen, z. B. Checklisten und Bewertungen für sich erstellen, Entscheidungsmatrizen oder vorbefüllte Bewertungen (z. B. Wahl-o-mat) nutzen. Am Ende ist entscheidend, möglichst alle relevanten Qualitäten zu sehen und für sich selbst individuell zu priorisieren.

Bei den Lebensmitteln ist das noch recht einfach (nur wenige relevante Parameter), beim Parteiprogramm herrscht zumindest theoretisch eine gewisse Transparenz. Viel schwieriger wird es aber bei so komplexen Systemen wie den Menschen um mich herum. Sie haben nicht-abzählbar viele Stärken und Schwächen, die sie mehr oder weniger gesteuert darstellen oder verbergen. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass ich erst mal für mich herausbekommen muss, welche dieser Seiten für mich eine Rolle spielen und welche nicht.

Ziehe ich den handwerklich geschickten Kameraden vor, der kaum einen fehlerfreien Satz über die Lippen bekommt? Oder doch lieber einen brillanten Redner, der aber im Haushalt nicht anpackt? Und so weiter.

Was man aus diesen Überlegungen ableiten sollte:
1. Jeder Mensch hat diverse Eigenschaften, Qualitäten, Stärken, Schwächen.
2. Bei den meisten Eigenschaften obliegt es mir, diese als gut oder schlecht einzuschätzen, für mich erwünscht oder unerwünscht, vielleicht hilfreich oder gar nützlich.
3. Ich kann meinen Mitmenschen nur als zusammengesetztes Individuum haben. Dazu gehören zwangsläufig auch von mir eher ungeliebte Seiten.
4. Der Mitmensch verändert sich im Laufe der Zeit, die Zusammensetzung seines Charakters bleibt meist grundsätzlich gleich, aber das Mischungsverhältnis kann wechseln.
5. Ich selbst entwickle mich mit der Zeit; meine Ansprüche, meine Werte und Priorisierung bleiben zwar oft grundsätzlich erhalten, aber die Skalierung kann sich verändern.
6. Wir neigen zur kognitiven Verzerrung, also Überzeichnung von objektiv wahrnehmbaren (positiven, aber auch negativen) Eigenschaften: Wir „steigern uns" in eine Beurteilung.

Fazit: Kaum ein Mensch ist rundum schlecht, aber auch keiner rundum gut. Das Gute am Gegenüber zu schätzen, Veränderungen mitzutragen und zu verstehen, dass jede Medaille zwei Seiten hat, erleichtert ein konstruktives Miteinander. Und wenn jemand plötzlich nicht mehr zu mir passt – liegt das mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit an mir selbst.

Montag, 10. Oktober 2022

Ich bin so viele Ichs

Es gibt zahllose Ansätze, die Vielfältigkeit des menschlichen Charakters darzustellen. Zweifellos sind wir Individuen, also sowohl körperlich als auch seelisch unterschiedlich. Und wie wir Menschen so sind, versuchen wir dafür Bilder zu finden. Da gibt es zum Beispiel Vorschläge, dass man eine Person als gewichtete Zusammenstellung verschiedener Eigenschaften sieht. In einem anderen Modell wird die Analogie zum Theater bemüht, in unserer inneren Bühne gibt es allerlei Schauspieler und einen Regisseur. Oder eine Sammlung innerer Stimmen, die mal laut, mal leise Statements und Anweisungen von sich geben.

Ich bin so viele Ichs
Wie auch immer man diese Vielfalt vermittelt, entscheidend sind die Mischung der einzelnen Bestandteile und deren Zusammenwirken. Und für mich dann noch die Frage, ob es Komponenten gibt, die unabhängig vom individuellen Charakter in jedem Menschen mehr oder weniger vorhanden sind.
Tatsächlich gibt es diese Basis, auf unterster Ebene als Triebe bezeichnet (übrigens auch wieder ein Bild, diesmal aus der Botanik). Unser tief verwurzeltes Streben nach Überleben, Ernährung und Fortpflanzung ist unabhängig von Rasse oder Kultur. Daneben – leider weniger beachtet – unser Drang nach Produktivität. Wir wollen tatsächlich etwas hinbekommen, vorantreiben, schaffen. Das ist nur in zweiter Linie eine Frage des Fleißes, vielmehr ist es ein Zwang, dem wir unterworfen sind.

Eines meiner vielen Ichs ist also die Schaffenskraft, und die will natürlich im Hintergrund auch wahrgenommen und gemanagt werden. Geschickte Steuerung führt zu erfolgreichem Handeln und in direkter Linie zu einem Zustand, der landläufig als Glück bezeichnet wird. Handwerker kennen den Stolz auf ein selbst gefertigtes Werkstück, aber auch am Schreibtisch ist die Zufriedenheit mit einem wohlgelungenen Foliensatz ein gutes Beispiel.

Da gibt es also in jedem Menschen eingebaut eine Kraft, die ihn nach vorne zieht. Manchmal ist das gar nicht so offensichtlich zu erkennen, zu vordergründig sind andere Ichs auf der Bühne und lenken die Zuschauer (unter anderem die Mitmenschen) ab. Das darf aber nicht daran hindern, im Sinne des Selbst-Managements auch diese urwüchsige und in jedem Menschen vorhandene Kraft bewusst einzusetzen. Und zwar gemäß dem Grundsatz „Power is nothing without control

Montag, 3. Oktober 2022

Gute Nacht für Realisten

Fangen wir mal ganz vorne an. Als wir noch jung waren, Säuglinge eben. Da wurde der Schlaf eingeleitet durch sanftes Schaukeln und vielleicht ein Wiegenlied. Bei kleinen Kindern ging das dann zum Vorlesen aus dem Bilderbuch oder gemeinsamen Beten über. Später eine Gute-Nacht-Geschichte und spätestens mit den Vorboten der Pubertät das Ablegen dieser kindlichen Riten.

Zu Unrecht, denn der gezielten Beschäftigung unseres Gehirns vor dem Wechsel in den Schlafmodus kommt große Bedeutung zu. Wir können zwar nur sehr eingeschränkt beeinflussen, ob wir mehr oder weniger bewusst träumen. Aber wir können durchaus steuern, mit was sich unser Gehirn beschäftigt, während es sich unbeaufsichtigt fühlt.
Ein zu später Stunde intensiv konsumierter Spielfilm im Fernsehen kann bis in den Schlaf nachklingen. Auch ein interessantes Buch oder die Beschäftigung mit einer kniffligen Aufgabe verfolgt uns bis in die Bettstunden. Und mit Übung lässt sich sogar ein Effekt über die Nachtstunden hinaus erzielen. Wie aktiv unser Denkapparat auch in den dunklen Stunden ist, erkennt man an dem oft empfehlenswerten Antritt, „erst mal drüber zu schlafen“.
Damit ergibt sich ein an und für sich bekannter Hebel, um seine Gedankenwelt merklich zu steuern und das Gehirn auch nächtlich für uns arbeiten zu lassen. Sorgen lassen sich bis zu einem gewissen Grad dämpfen, wenn wir während des Einschlafens gezielt positive Impulse setzen. Geben wir unserem Gehirn die Entschlüsselung eines komplexen Gedichts als Nachtaufgabe, kann es sich in der Zeit nicht mit dem Ärger im Büro beschäftigen.

Gute Nacht für Realisten
Quintessenz ist also, dass Gute-Nacht-Geschichten nicht so heißen, weil sie süß und romantisch sind, sondern weil sie ein gutes Mittel für das Management unserer Traumwelt sind. Auch der nüchternste Realist träumt, vielleicht nicht vom endlosen Kuss beim Sonnenuntergang im Kornfeld, aber auch die Beschäftigung mit den Quartalszahlen einer Aktiengesellschaft kann in die Nachtverarbeitung gegeben werden.
Was für uns in den Kindertagen ein probates Mittel war, können wir reaktivieren, kultivieren, optimieren und den gezielten Einsatz trainieren.

Montag, 26. September 2022

Die Lust am Umweg

Irgendwo auf dem Weg vor mir wird laut Verkehrsfunk ein Stau angekündigt. Bis zu seinem Ende ist noch ein ganzes Stück zu fahren, aber schon jetzt beginnt die Planung der Umfahrung. Sollte man nicht lieber jetzt schon auf die Landstraße ausweichen, wer weiß, ob der Stau inzwischen länger geworden ist. Ein Blick auf das Navi macht klar, dass Stand aktueller Datenlage der Verbleib auf der Autobahn der zeitlich kürzere Fahrweg ist. Dennoch kommen mir Zweifel, wie schnell kann sich der Stillstand verlängern, nein, der sicherere weil planbarere Weg ist über die Landstraße.

Lust am Umweg
Was natürlich falsch ist. Im Gegensatz zu mir kennt das Navi die Länge der Ausweichroute und kann anhand seiner Daten gut abschätzen, wie lange ich durch das Mäandern der Straße und den Aufenthalten vor Ampeln aufgehalten werde. Allein: Ich stehe nicht hilflos in einer Warteschlange, abgesehen von Kreuzungen und Ampeln bin ich die ganze Zeit in Bewegung. Und allein dies führt zu einem Gefühl des besseren Vorankommens.

Operative Geschäftigkeit führt zum Irrglauben, dass wir zügiger ans Ziel kommen als auf kurzer Strecke vorübergehend anhalten und warten zu müssen. Eigentlich egal, sagen wir uns und selbst wenn wir in Übereinstimmung mit der Vorhersage des Navigationsgerätes durch die Landstraßenfahrt später ankommen als mal kurz im Stau zu stehen sind wir immer noch überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Wie an so vielen Stellen, ist uns auch hier unser Denkapparat wenig nützlich gewesen. Gaukelt er uns mit allerlei vorgeschobenen Argumenten vor, alles richtig gemacht zu haben. Was letztlich dazu führt, dass wir auch bei der nächsten Gelegenheit wieder frühzeitig auf die Landstraße ausweichen und die längere Strecke billigend in Kauf nehmen.

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Montag, 19. September 2022

Ein Modell ist ein Modell ist ein Modell

Im Laufe der Jahre habe ich ein Vielzahl von Seminaren besucht und an vielen Schulungen zur Entwicklung von Softskills teilgenommen. Das ist ein Segen, so hatte ich Gelegenheit, eine ganze Reihe verschiedener Typologien kennenzulernen. Oft ergab sich auch eine Nachbetrachtung, vertiefte Recherche in OCEAN, Belbin, Insights Discovery und Astrologie, um nur mal ein paar der Ansätze zu erwähnen.

Modell im Blog By Dr.-G. Eckhard Gleitsmann
Jedes dieser Modelle hat seine Berechtigung, erklärt es doch gewisse Phänomene in ausgewählten Systemen. Gemäß Definition ist ein Modell ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit, und dient dazu, die Anzahl betrachteter Parameter auf ein handhabbares Maß zu reduzieren. Der Vereinfachung zu Liebe wird auf Details verzichtet und man konzentriert sich im Wesentlichen auf die Anwendbarkeit bei der Mehrzahl der Fälle.

Diese immanente Eigenschaft von Modellen führt dazu, dass eher exotische (nicht „normale“) Systeme nicht richtig beschrieben werden. In der Physik kann die Vernachlässigung von Potenzen höherer Ordnung auftretendes Schwingungsverhalten kaschieren, was fatale Folgen haben kann. Andererseits ist die Vorstellung von elektrischem Strom als fließendes Wasser sehr anschaulich und selbst in recht aufwändigen Aufbauten eine gute Visualisierung.

Ob nun im konkreten Fall hilfreich oder im Gegenteil irreführend – jedes Modell hat eben seine Grenzen, kann manche Phänomene in gewissen Systemen vorstellbar machen oder sogar erklären; für andere Phänomene oder Anwendung in ungeeigneten Fällen ist es aber unbrauchbar. Das alleine ist noch keine bahnbrechende Erkenntnis, wäre da nicht der weitverbreitete Antritt der Lehrer, eben diese Modellgrenzen zu ignorieren.

Von ihrem Modell überzeugt – warum auch immer – wenden sie es mit Gewalt auch in Fällen an, die bei sorgfältigem Studium der Prämisse ausgeschlossen werden sollten. Und erhalten natürlich auch dafür (falsche) Ergebnisse, die sie mit dem Brustton der Überzeugung vertreten.

Arbeit mit Modellen ist unvermeidlich, aber äußerste Vorsicht ist gerade auch bei Typologien und Persönlichkeitsmodellen geboten. Aus eigener Erfahrung kann ich alle mir bekannten Modelle in drei Gruppen einteilen. Da sind zum einen die, die auf mich schlichtweg nicht oder nur mit Zugeständnissen anwendbar sind. Zweitens die Kategorisierungen, die mehr oder weniger passen, aber nur einen zu kleinen Ausschnitt meiner Persönlichkeit erfassen und damit der Komplexität nicht gerecht werden. Und drittens dann die für mich geeigneten, die vielleicht sogar über ihre eigene Modellgrenze hinweg Einsichten verschaffen.

Wobei die Zuordnung in diese drei Gruppen ganz individuell ist. Entsprechend gibt es kein besonders gutes oder schlechtes Modell oder gar eines, dass ich jedem empfehlen könnte. Damit bin ich wieder am Anfang dieser Gedanken, es ist leider unvermeidbar, dass man (sofern es einen interessiert) eine Vielzahl von Modellen kennenlernt, sich selbst ein Bild über die Nützlichkeit macht und sie als Kür für den konkreten Anwendungsfall geschickt miteinander kombiniert.


Montag, 12. September 2022

Tradition ist ein unpassendes Argument

Irgendwie finde ich es drollig, wenn meine Altersgenossen sich Gedanken machen, wie sie die jungen Erwachsenen „abholen“ können. Da kramen sie aus ihrem persönlichen Erfahrungsschatz Begriffe hervor, die für Jugendliche entweder unbekannt sind oder mittlerweile eine andere Bedeutung haben. Dieser Antritt ist ein wenig deplatziert, aber so richtig unpassend wird es beim Verweis auf Tradition.

Tradition hat etwas mit Erhaltung von Werten zu tun, da geht es um die Wiederholung von Riten oder Beibehaltung von Gewohntem. Und genau das ist das Gegenteil von Pubertät. In dieser aufwühlenden Lebensphase geht es darum, Neues zu schaffen, sich gegen die etablierten Abläufe aufzulehnen, einen eigenen und vermeintlich besseren Weg zu gehen. Die Kinder wollen Alternativen erfahren, es anders machen als ihre Vorfahren und sind so betrachtet die leibhaftige Opposition.

Diese Zielgruppe mit dem Verweis auf Althergebrachtes zufrieden zu stellen, die positiven Erfahrungen der Vergangenheit („Vertrauen“) in den Mittelpunkt zu rücken ist damit ganz offensichtlich der falsche Ansatz. Bestärkung in ihrer selbstverordneten Revolution, äußerlich entrüstetes Begleiten des Aufbegehrens und zähneknirschende Akzeptanz der modernen Anforderungen passen da viel eher.

Selbstredend würde Mitgefühl oder allzu leichtes Eingehen auf die Änderungen zu Misstrauen führen: Es ist Teil des Systems, dass Ältere die Jüngeren nicht verstehen können. Der Widerstand gegen die Änderungen muss also für alle Beteiligten erfahrbar sein. Was aber auch inhaltlich seine Berechtigung hat, denn natürlich ist es in der Sache weder sinnvoll, die Evolution durch eine Revolution zu ersetzen, noch jegliche Evolution zu unterbinden.

Montag, 5. September 2022

Schwupps wird aus Holschuld Bringschuld

Ganz harmlos liegt da eine nette E-Mail in meinem Postfach. Privatpost lese ich immer gerne, da erfahre ich von guten Freunden wie es ihnen geht, was sie gerade machen oder planen. Oder sie fragen nach Rat, geben mir Tipps, verraten kleine Geheimnisse.

So auch in diesem Fall ein nettes Lebenszeichen, freundliche Worte über zig Zeilen hinweg. Fast lasse ich mich einlullen, doch dann am Ende des Briefes der Pferdefuß: „Halt mich bitte auf dem Laufenden“. Was zunächst unscheinbar klingt ist ein Auftrag, mehr noch, hier wird aus einer Holschuld („Ich rufe dich nächste Woche mal an und frage, wie es weitergegangen ist“) eine Bringschuld. Die man in diesem Fall noch nicht mal abweisen kann, kommt sie doch in der Verkleidung des wohlmeinenden Interesses daher.

Doch wie auch immer man es verpackt, plötzlich habe ich eine Aufgabe mehr, muss vielleicht sogar explizit einen Merker setzen, um mir den Vorwurf des Vergessens zu ersparen. Und so kommt zum Meistern der eigentlichen Situation noch ein weiteres Todo dazu.

Im beruflichen Umfeld sind wir es ja gewohnt, die Vorgesetzten wollen über Entwicklungen informiert gehalten werden, gelegentlich ist es Teil der Führung, je nach Gegebenheit auch in Form von formalen Statusmeldungen oder Reports. Eigentlich sollte man im Privatleben ohne solche Instrumente miteinander umgehen, aber heimlich wird einem hier wie da eine Aufgabe untergeschoben.

Montag, 29. August 2022

Jugend ist ein nachwachsender Rohstoff


An manchen Tagen habe ich den Eindruck, die Welt steht still, dann wieder scheint sie sich wie wild zu drehen und alles fliegt nur so dahin. Tatsächlich ist die Zeit im physikalischen Sinn eine Dimension, allerdings ganz anders als die Raumdimensionen. Sie hat im menschlichen Sinn eine strenge Vorzugsrichtung, vergeht unaufhaltsam und wir pflegen sie in die Bereiche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu strukturieren.

Unser Leben ist ein kurzer Abschnitt auf dieser Achse, jeder Mensch erlebt die Zeit zwischen Geburt und Tod als persönliche Erfahrung. Jeder Gedanke an bereits Erlebtes orientiert sich an der Vergangenheit, jeder Versuch die nächste Lebensphase zu planen ist mit Zukunftsüberlegungen gekoppelt.

Alternativ kann man die Zeit aber auch anders wahrnehmen. Man wählt einen gewissen Ort und beobachtet von dort die Veränderung. Ich stelle ich mir vor, ich befände mich in meinem alten Klassenzimmer; vor und auch nach mir haben viele Kinder und Jugendliche dort auf den Stühlen gesessen. Wenn der Raum erzählen könnte, wüsste er so manche Geschichte zu berichten. Die Schülerinnen und Schüler strömen über die Jahre an ihm vorbei. Jugend, so würde er sich vielleicht ausdrücken, ist ein nachwachsender Rohstoff.

Mir gefällt dieser Gedanke, stellt er doch beruhigend heraus, dass die Jugend von heute die Mid-Ager von morgen sind. Und dass ich akzeptieren muss, dass ich diese Lebensphase längst hinter mir gelassen habe. Ein Festhalten an (damaligen) Ritualen, das jugendliche Lebensumfeld und die seinerzeitigen Vorlieben ist irgendwann nicht mehr adäquat. Mit der Zeit verändern sich die Ansprüche, verschieben sich die Werteskalen.

Daneben führt einem das unerbittliche Weiterschreiten auch die Vergänglichkeit vor Augen. Schönheit lässt sich nicht wirklich konservieren, bestenfalls kann man den äußeren Alterungsprozess ein wenig verlangsamen. Und auch hier erzwingt der Zeitverlauf, dass wir uns mit den unumgänglichen Veränderungen arrangieren, zeitlose Qualitäten spielen eine zunehmend wichtigere Rolle. Während unser Körper altert, können Eigenschaften wie Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit bis ins hohe Alter erhalten bleiben.

Neben dem Körper sind aber auch die Psyche und der Geist von der Alterung betroffen. Ich denke nicht nur an Alterskrankheiten, auch die nicht-pathologischen Veränderungen müssen wir als gegeben erkennen und akzeptieren. Vergleichbar unserer Hülle lässt sich vielleicht der Altersstarrsinn ein wenig aufhalten und die Weltoffenheit und Neugierde im Gegenzug konservieren. Aber an die jugendliche Wendigkeit und Lernfähigkeit können wir irgendwann nicht mehr anknüpfen.

Kein Grund zur Sorge. Während Liebreiz in Charisma übergehen kann, ist die Weiterentwicklung von Schulwissen zu Erfahrungsschätzen eine durchaus reizvolle Perspektive.

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Montag, 22. August 2022

Ein Hoch auf Corona

Mal ganz ehrlich: Wir können doch wirklich froh sein, dass es Corona gibt. Oder gab. (Wer weiß das schon?) In den Geschichtsbüchern der Zukunft wird die Pandemie als herausragendes und weltweites Ereignis notiert sein, auf Augenhöhe mit der industriellen Revolution. Natürlich, die Opferzahlen werden dann aufgeführt sein, die politischen Diskussionen vielleicht auch erwähnt, aber im Mittelpunkt die revolutionären Veränderungen, die durch dieses Virus hervorgerufen wurden. Branchen, die vorher schon kränkelten sind untergegangen. Alles, was online zu machen ist, hat einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Preise für alltägliche Dienstleistungen sind explodiert, die bis dato gebeutelte Logistikbranche war plötzlich der strahlende Gewinner. Endlich konnten die realen Preise am Markt durchgesetzt werden, eine großzügige Marge ließ den Schmerz der vergangenen Jahre und Jahrzehnte vergessen.

Aber nicht nur Märkte änderten sich. Auch die Erbringung von Arbeitsleistung und deren Einbettung in das Leben erhielten eine neue Facette. Homeoffice wurde gesellschaftsfähig, mobile Arbeit an vielen Stellen integraler Bestandteil der Arbeitsverhältnisse. Was sich sowohl auf die Ausstattung, die Wohnungen als auch auf das Controlling der Mitarbeiter und deren Leistung auswirkte. Zumindest in den Industriestaaten war nichts mehr wie es vorher war.

Bemerkenswert aber nicht nur die Sprunghaftigkeit der Änderungen, sondern auch die Beschleunigung von Trends und Tendenzen, die vorher eigentlich schon absehbar waren. Geschäfte, die ihre Präsenz im Internet nur zögerlich entwickelt hatten, mussten nun die für die nächsten Jahre geplante Umstellung in wenigen Monaten vorantreiben. Die Veränderung von Lieferketten und die immer wieder ausfallenden Zulieferungen erzwangen die Neubewertung von just-in-time und Risikomanagement im Bereich Lagerhaltung.

Überhaupt bekamen wir einen neuen Blick auf das Thema Globalisierung. Was bislang als große Chance eingestuft wurde, war nun auf einmal eine Bedrohung. Die Renaissance der Selbstversorgung war ebenso Pandemie-getrieben wie die Wertschätzung bis dahin als selbstverständlich wahrgenommener Güter und Dienstleistungen.

Es gibt – so möchte man verallgemeinernd festhalten – auch bei der an und für sich eher negativen Epidemie eine recht ausgeprägte (gute) Seite der Medaille.

Montag, 15. August 2022

Tschüss Horst

Vor ein paar Tagen ist ein Arbeitskollege in den Ruhestand gegangen. Er hat die Altersgrenze erreicht und wird nun nicht mehr für das Unternehmen tätig. Horst war und ist ein Sympathieträger, obendrein fachkundig und ausgesprochen fleißig. Ein hervorragender Mitarbeiter also, der nun nicht mehr zur Verfügung steht.

Bei der Verabschiedung konnte ich mich überzeugen, dass er nicht nur geistig, sondern auch körperlich noch in einem tollen Zustand ist – kurz gesagt: eigentlich zu jung für die Rente. Und das ist nicht nur mein Eindruck, er selbst erzählt begeistert von der Zukunft, von den Aktivitäten, denen er jetzt endlich die Zeit widmen kann, die ihm dafür bisher gefehlt hat. Nein, lässt er mich wissen, er wolle sich nicht zur Ruhe setzen, er peile den Aufbau eines eigenen Betreuungsangebotes für Kinder an, was durch Corona komplett zum Erliegen gekommen war.

So geht er also in eine neue Lebensphase über. Er ist dann wieder tätig, weiß aber jetzt nach Jahrzehnten Erfahrung, was er gut kann und die Organisation seines Tages ist deutlich weniger fremdbestimmt. Diese Veränderung erlebe ich bei vielen Menschen, die ihre reguläre Arbeit beenden, dann aber zügig zu einer anderen Form der Beschäftigung übergehen. Mal ist es ein beachtliches gemeinnütziges Engagement, mal die aktive Besetzung einer politischen Funktion.

Was diese Menschen verbindet ist der nach wie vor vorhandene Tatendrang. Vielleicht sogar noch ausgeprägter als in den letzten Jahren, in denen sie in ihrer Berufstätigkeit nicht mehr die ursprüngliche Erfüllung gefunden haben. Und sie sind weder körperlich verbraucht noch seelisch abgehalftert.

Ist denn, so frage ich mich, unser klassisches Rentenmodell heute überhaupt noch zeitgemäß? Sollte man nicht gerade für rüstige ältere Mitmenschen die ganz normale Arbeit fortsetzen, nur unter anderen Rahmenbedingungen? Zweifellos erbringen sie mit ihrer zum Teil ehrenamtlichen Leistung einen messbaren Teil des Bruttoinlandsproduktes, sind dank ihrer Erfahrung ein wichtiger Faktor in der Begleitung von Betrieb und Fortschritt. Wobei gerade im Fortschritt großes Potential liegt, wenn man ihre Erfahrung direkt mit Nachwuchskräften zusammenbringt, die mit den neuesten Techniken groß geworden sind und eine moderne Ausbildung hinter sich haben.

Ein merklicher Teil der Deutschen hat beim Ausscheiden aus dem Berufsleben keine Lust mehr, viele Jahre ähnlicher Tätigkeit und Schwierigkeiten bei der Gestaltung der eigenen Aufgaben haben das Engagement auf ein Minimum reduziert. Ein wenig Abstand, ein paar Monate der Erholung und dann kommt die Frage: War’s das? Und die Antwort: Nein, da geht noch was.

Hier müssen wir ansetzen, die neu aufkeimende Motivation 2.0 erkennen, fördern, gezielt nutzen. Man könnte sich vorstellen, dass nach einem Jahr ein Schreiben ins Haus flattert mit dem Angebot, in Teilzeit wieder einzusteigen. Denkbar auch Kooperationen zwischen Unternehmen, bei denen eine Jobrotation nach Renteneintritt systematisch organisiert, ein Werben um diese wertvollen Ressourcen und ein altersgerechtes Onboarding angeboten werden.

Sehr deutlich konzentrieren sich Personalabteilungen auf die Rekrutierung von Nachwuchskräften, auf dem Markt auch Rentner als Zielgruppe zu verstehen hat sich noch nicht herumgesprochen. Und dabei sollte nicht abschrecken, dass dieser Antritt leider auch durch Politik und die übliche Finanzsteuerung konterkariert wird.

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Montag, 8. August 2022

Keine so gute Idee

„Atomkraft – nein Danke“ kam als Slogan auf, als ich gerade mal neun Jahre alt war. Die lächelnde rote Sonne stand nicht nur für die Ablehnung der zivilen Nutzung von Atomenergie; Nein, sie war Symbol für ein Umdenken, das wir heute vielleicht mit dem Begriff Nachhaltigkeit belegen würden. Natürlich wurde ich von den Strömungen mitgerissen, hörte die Argumente und begann, mich mit den dahinter liegenden Sachen zu befassen. Was mich bis in mein Studium der Physik verfolgte und die Notwendigkeit der Distanzierung von umfänglicher Nutzung dieser Technologie immer deutlicher werden ließ.

Unzählige Demonstrationen, Regierungswechsel und viele Jahre gingen ins Land, bis die raue Ablehnung sich in vertragliche Änderungen und den so genannten Atomausstieg manifestierte. Endlich – so schien es – hatte die Vernunft über eine massive Lobby gesiegt. Und begleitet wurde diese Entwicklung durch den Aufbau anderer Ansätze zur Energiegewinnung. Windkraftwerke erlebten einen Boom, hier und da wurden auch Wasser- oder Gezeitenkraftwerke gebaut. Nicht zu vergessen der Ausbau von Photovoltaik, als Park hier und für Privathäuser da.

Doch wie bei allen Veränderungen gab es unverzüglich Gegenbewegungen. Die Endlagerung von Atommüll wird als nur derzeit noch ungelöstes Problem deklariert. Die Windkraftwerke belasten unverhältnismäßig die Landschaft und Flächen mit Photovoltaik vernichten Ackerfläche. Ob diese Argumente stimmen und wie man sie gegeneinander abwiegen muss, das beschäftigt zahlreiche Gutachter und nicht wenige Gerichtshöfe in Deutschland.

Das zähe Ringen der verschiedenen Interessensgruppen und der große Aufwand, der zum Herbeiführen einer Entscheidung getroffen wird, führt zu langwierigen und selten endgültigen Entscheidungen. Es sei denn – wie jüngst geschehen – es kommen neue Entscheidungsfaktoren ins Spiel. Die bisher erzielten Standpunkte und Festlegungen weichen nun plötzlich einer als pragmatisch bezeichneten neuen Ausrichtung.

Die Nachteile der verschiedenen Formen der Energiegewinnung haben sich nicht geändert; doch bei gleichbleibendem Bedarf ist plötzlich Gas als eine bislang als sicher eingeschätzte Energiequelle ausfallgefährdet. Und was liegt da näher als die bisherige Konstellation weiter zu betreiben und den Ausstieg einfach aufzuschieben. Menschlich verständliche Sicht, es ist ja bislang gutgegangen (mal abgesehen von Tschernobyl).

Kurzfristig akzeptabel, aber es fehlt der deutliche Wille, in für uns nun mal ausgesprochen wichtige Forschungsfelder zu investieren. Erdwärme, Wasserstoffgewinnung, Energiespeicherung und –transport sowie eine Vielzahl weiterer Schwerpunkte werden in sträflicher Form vernachlässigt.

Montag, 1. August 2022

Hallo Kollege, danke schön

Wie die Zeit vergeht – mehr als 50 Jahre vor der heutigen Zeit versuchte der Deutsche Verkehrssicherheitsrat uns auf respektvolle und defensive Verhalten im Straßenverkehr einzustimmen: „Hallo Partner, danke schön“. Weg vom Platz-da-jetzt-komme-ich, mit zunehmender Anzahl der Kraftfahrzeuge schien ein Umdenken dringend notwendig. Aus heutiger Sicht wirkt der Slogan ein wenig altbacken und ich würde mich auch nicht als Partner aller anderen Verkehrsteilnehmer sehen wollen.

Doch der Aufruf zum defensiven Fahrstil ist auch heute noch aktuell. Egal, wie manche Fahrzeugführer das sehen, die Pferdestärken ihres Vehikels oder die Höhe des Dachfirstes ihres SUVs sind keine Argumente; Und gewöhnliche Autos sind auch nicht als Waffe zu verstehen.

Einen Schritt weitergedacht geht es neben der zurückhaltenden Grundeinstellung auch um vorausschauende Planung der Fortbewegung. Ich brauche keine Glaskugel, um zu vermuten, dass der flotte PKW auf der rechten Spur gleich den langsamen LKW vor ihm überholt und dazu auf meine Spur wechselt. Wenn ich dann nicht extra beschleunige, sondern vielmehr den Fuß vom Gas nehme, gar bremsbereit bin, dann ist das für alle Beteiligten entspannend und energieschonend.

Kür ist dann ein Fahrstil, der Fehler der anderen Verkehrsteilnehmer einkalkuliert, nennen wir es mal fehlertolerant. Selbst wenn mein Vordermann unvermittelt bremst, der entgegenkommende Fahrer sich in seinem Überholvorgang verkalkuliert hat, die Kurve enger ist als gedacht und plötzlich ein Reh auf der Fahrbahn steht. Niemand ohne hellseherische Fähigkeiten kann all dies stets unfallfrei parieren, aber die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls deutlich verringern, die Folgen erheblich reduzieren und dieses peinliche Schulterzucken „Wie hätte ich das wissen sollen?“ vermeiden.

Und die Moral von der Geschichte: Gilt nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch im zwischenmenschlichen Umgang und im Teamwork.
 

Montag, 4. Juli 2022

Die neue Haustür

Bei meiner Mutter habe ich als Kind immer gestaunt, wie sich ihre Garderobe ausgelöst durch einen harmlosen kleinen Kauf vollständig verändern konnte. Das fing zum Beispiel mit Handschuhen an. Diese wundervollen, weichen und glänzenden Lederhandschuhe waren einfach ein Muss. Bedauerlicherweise passte allerdings der Mantel nicht dazu. Und nach Zukauf eines ansprechenden Überziehers stellte sich heraus, dass auch die Schuhe, die Strümpfe und das Kleid nicht ins Gesamtbild passten. Was im Endeffekt zu einer bekleidungstechnischen Kernsanierung führte.

Nun ist es mir tatsächlich ähnlich ergangen. Die Initialzündung war eine neue Haustür. Sie gefiel mir gut, der Preis war ansprechend und unter modischen Gesichtspunkten bestand ein gewisser Austauschbedarf. Und dann nahm der Prozess seinen Lauf, denn die neue Haustür war zu breit für die vorhandene Türleibung. Einleuchtend, dass man nicht einfach nur die Mauer wegstemmen konnte, nein, die Umgestaltung des Eingangsbereiches war erforderlich. Wozu die Küchenwand versetzt, das Haus ein wenig verbreitert und die Toilette an anderer Stelle platziert werden musste. Von Bodenfliesen und Beleuchtungskörpern ganz zu schweigen, denn mehr Aufwand war der Austausch der alten Küchenzeile durch eine L-förmige Anordnung. Also am Ende eine bautechnische Kernsanierung.

Aber nun ist es geschafft, die neue Haustür ist drin, ich dahinter und auch wenn noch ein paar Kleinigkeiten improvisiert werden müssen, ist das Ergebnis doch sehr schön geworden. Wer also noch zögert, ob er eine Veränderung einleiten will, dem kann ich nur raten, sich neue Handschuhe oder eine neue Haustür zu kaufen.
 

Montag, 27. Juni 2022

Ich bin hässlich

Wenn ich so vor dem Spiegel stehe wird mir immer wieder bewusst, wie viele äußere Mängel ein Mensch haben kann. Da sind die Beine zu lang, der Bauch zu dick, der Po zu breit, der Busen zu klein, die Haare zu dünn, die Nase leicht schief, die Augen zu eng, der Bizeps zu schlaff und was es sonst noch so an Bemängelns werten Ausprägungen gibt.

Ich will nicht bezweifeln, dass es sehr hübsche und ausgesprochen hässliche Menschen gibt. Es spricht auch nichts dagegen, ein wenig an sich und der körperlichen Schönheit zu arbeiten.

Aber jenseits dieser behutsamen Optimierung hört der Spaß auf. Manches ist einfach so, das muss man akzeptieren. Wer von der Natur ein breites Becken mitbekommen hat, der tut gut daran, sich damit abzufinden. Und ob bei einer Frau die Oberweite groß oder klein sein muss, nun, das ist einerseits modeabhängig und andererseits Geschmacksache.

Wenn man nur genau genug hinschaut, findet man ja in jedem Fall irgendein Detail, das nicht dem (eigenen) Ideal entspricht. Selbst außergewöhnlich attraktive Menschen haben noch etwas an sich auszusetzen. Und stellen die Bearbeitung dieses identifizierten Defizits für sich in den Mittelpunkt der Handlung.

Ganzheitlich betrachtet gehört neben der Bildung und dem Intellekt auch die äußere Erscheinung mit zur Außenwirkung. Aber eben nur als ein Aspekt unter mehreren. Wird dieser Punkt überbewertet, dann erfolgt meist auch das Urteil durch die Mitmenschen auf dieser Basis und führt zu der von manchen Models entrüstet vorgebrachten Aussage, blond wäre nicht automatisch doof.

Ich halte für mich fest, dass es sich mit der Schönheit verhält wie mit dem Reichtum. Es gibt nur einen reichsten Menschen und schon der zweite ist zwar immer noch unermesslich wohlhabend, aber er ist gegenüber der Nummer eins ein Verlierer. In diesem Sinne sind wir also alle – bis auf eine einzige noch zu definierende Ausnahme – hässlich.

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Montag, 20. Juni 2022

Vorgeschichte und Vorurteil

Ich fahre beim Supermarkt vor, der Parkplatz ist voll, und dieser asoziale Idiot hat mit seinem dicken Schlitten gleich zwei Stellplätze belegt. Das ist ja mal wieder typisch, je größer die Autos, desto kleiner das Hirn oder die Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer. Wenn der Typ sich hier blicken lässt, dann werde ich ihm mal gehörig die Meinung sagen.
Die Sache ist klar, das Urteil ebenfalls. Nur – bei genauerer Betrachtung darf ich eigentlich nur die offensichtlichen Fakten beurteilen, die begleitende Geschichte entsteht nur in meinem Kopf. Wie sich nämlich herausstellt ist der Fahrer eine Frau, neben dem von ihr besetzten Parkplatz befand sich auf der einen Seite ein zu weit seitlich geparktes Auto und auf der anderen Seite kämpfte sich eine junge Frau mit Kind und Kinderwagen in ihr Fahrzeug. Von Rücksichtslosigkeit kann also keine Rede sein. Mein Urteil ist damit ein Vor-Urteil, die vermeintliche Entstehungsgeschichte eine komplette Fehleinschätzung.

Und so geht es weiter, ständig lege ich an irgendwelche Beobachtungen eine Messlatte an und kann dann sagen, was gut oder schlecht ist. Was ein Mitmensch falsch gemacht hat. Bedauerlicherweise fehlt die innere Bremse, das „Moment mal!“ oder grundsätzlich der kritische Umgang mit dem Richter in mir. 

Ein Hund aus dem Tierheim? Kommt nicht in Frage, wer weiß, was der schon alles erlebt hat. Ob er als Welpe geschlagen wurde, schlechte Erfahrungen gemacht hat. Die man möglicherweise zunächst gar nicht erkennen kann und die nur in ganz bestimmten Situationen ans Tageslicht kommen. Was zum Beispiel, wenn er ausrastet, sobald er einen bärtigen Mann mit Brille sieht (weil der ihn immer gequält hat)?
Ich weiß es natürlich auch nicht, aber gehe ich so nicht nur bei der Hundeauswahl, sondern auch bei der Partnersuche vor? Frage ich das Mädchen neben mir, ob es eine schwere Kindheit hatte und immer von einem Glatzkopf gehänselt wurde?

Wir kennen – das ist die Botschaft – nie alle Aspekte und in den wenigsten Fällen die komplette Vorgeschichte. Obacht also, bevor wir ein hartes Urteil sprechen. Denn weder sind wir alle geborene Richter, noch wird zu jeder Aussage im Vorfeld mit Zeugenbefragung verhandelt. Vielmehr gestaltet sich der Alltag mit Situationen, in denen wir uns positionieren, ohne ein „gerechtes“ Urteil sprechen zu können.

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Montag, 13. Juni 2022

Die besondere Romantik des Krieges

Angesichts der Schrecken, die aus meiner Sicht alle Kampfhandlungen dieser Welt über unzählbar viele Menschen bringen, frage ich mich immer wieder, was daran romantisch sein könnte. Da höre ich Soldatenlieder und lese von kühnen und tapferen Kriegern. Tapferkeit, das habe ich nachgeschlagen, setzt Leidensfähigkeit voraus und ist meist mit dem Glauben an höhere Werte verbunden. Also der Überzeugung, zum Beispiel etwas für sein Vaterland, seine Religion zu tun oder für eine gute Sache zu agieren.

Bis dahin, naja, das kann man vielleicht so sehen. Zweifellos eine eigentümliche Sicht der Dinge, der sich durchaus nicht alle Menschen anschließen. Und an diesem Punkt wird es – wie stets beim Aufdrücken einer Meinung – ziemlich abwegig. Gruppieren wir doch mal die verschiedenen Fraktionen.

Da sind zunächst mal die, die sich wirklich für irgendwelche höheren Werte begeistern und von innen heraus dafür eintreten. Im Kern wollen sie etwas erreichen, ihre religiöse Überzeugung weitergeben oder ihre Kultur mit anderen Menschen teilen. Dies in den seltensten Fälle auf der Basis von Freiwilligkeit und Überzeugung, sondern durch Macht und Gewalt.

Direkt dahinter die deutlich größere Anzahl von Menschen, die sich für die höheren Werte begeistern lassen. Die also mitmachen, mitplappern und die Gedanken der Rädelsführer übernehmen. Sie laufen mit, eifern ihren Führern nach und übertreffen diese oft sogar in der Ausgestaltung im Sinne vorauseilenden Gehorsams. Wirklich eigene Argumentationslinien sind hier nicht anzutreffen, und die in den Logiken verwobenen Aspekte sind austauschbar. Heute gegen Atomkraft, morgen für Klimawandel. Oder eben für den Krieg gegen Nachbarstaaten.

Drittens dann diejenigen, die zum Mitmachen überredet oder gezwungen werden. Ein Grundgedanke oder höheres Ziel ist ihnen nicht zu eigen, aber sie ergeben sich dem Druck der Führer und deren Helfer. Im Krieg werden Männer unter Androhung von Strafen eingezogen, in Friedenszeiten mit sozialem Druck zu irgendwelchen Unterschriften oder Handlungen bewegt.

Ein deutlich geringerer Anteil der Bevölkerung macht nicht mit. Sie widersetzen sich, leben mehr oder weniger offene Opposition und nehmen dafür Strafen von der Ächtung bis zum Tode in Kauf. Je nach Geschick können sie sich der Sache entziehen, aber zweifellos ist es eine gefährliche Entscheidung.

Schließlich dann noch die Menschen, die aktiv dagegen halten. Die öffentlich ihre Stimme als Gegendarstellung zur großen Meinung erheben und versuchen, der Welle zu begegnen. Zur Erreichung ihres Zieles greifen sie sogar zu aggressiven Maßnahmen und schrecken im Extremfall auch vor Anschlägen nicht zurück.

Wo sind nun – um zum Anfang der Überlegungen zurückzukehren – die tapferen Menschen zu finden? Ganz sicher sind es nicht die wenigen Anführer und Vordenker. Es sind auch nur bedingt die Mitläufer; Diese Fanatiker sind blind für die von ihnen verursachten Schäden und ebenso blind für die eigenen Nachteile. Weder das Niedermetzeln von anderen Lebewesen noch der heldenhafte Selbstmord in einer Schlacht haben etwas mit Tapferkeit zu tun. Die Hineingezerrten sind es aber auch nicht. Sie werden vielmehr einer speziellen Form der Folter unterzogen, Leidensfähigkeit bis zum Tod wird von ihnen verlangt, eine Motivation für diese Art der Quälerei bleibt jedoch aus.

Tapfer und mit dem größten Mut ausgestattet ist die Opposition. Wie beschwerlich ist deren Weg, wie gefährlich der Aufstand dieser meist eher kleinen Gruppe. Wenn es also einen Grund gibt, die vermeintliche Romantik des Krieges zu besingen, dann müssten wir die Lieder und Balladen auf eben diese tapferen Frauen und Männer dichten.

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Montag, 6. Juni 2022

Pfingstmontag – Krieg oder Frieden?

Da gibt es diesen hohen Feiertag, den Christen in aller Welt begehen: Pfingsten. Gefeiert wird dieses Fest, weil der Geist Gottes zu den Jüngern Jesu entsandt wurde. Es ist lohnenswert, sich diesen Vorgang etwas genauer und ohne Vorurteile anzusehen. Wie zu Ostern geschrieben („Die kleine Kreuzigung (Karfreitag)“) ist die Ära Jesu zu Ende. Ob er tatsächlich am Kreuz gestorben ist oder dieser Tod nur sinnbildlich zu verstehen ist, spielt keine Rolle.

Nach seinem Tod kam dann eine neue Phase der Verbreitung, heute würde man vielleicht von Mission und Marketing für das Produkt Christentum sprechen. Ein Element hierbei ist der Transport des Gedankens durch Vertriebsmitarbeiter, seinerzeit als Jünger bezeichnet. Und damit diese auch wirklich von innen heraus die Überlegungen vertreten, werden sie auf das Gedankengut noch einmal eingeschworen (moderne Formulierung: Briefing). Bildlich wird dies dargestellt, indem der Geist Gottes zu den Jüngern kommt.

Eine Beeinflussung der Gedanken, des Geistes, im Sinne intensiver Arbeit an der Denkstruktur. Negativ formuliert wäre der Begriff der Gehirnwäsche zutreffend. Jedenfalls ziehen die Apostel los und verkünden ihre Botschaft. Wobei es eigentlich gar nicht ihre eigene Botschaft ist, sondern die von einer übergeordneten Instanz (Gott) eingegebenen Worte.

Nun erleben wir auch in der heutigen Zeit, also viele Jahrhunderte später, die Auswirkungen dieses heiligen Geistes, der sich quer durch viele Gesellschaften zieht. Da gab und gibt es Solidarisierung und Zusammenkünfte von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen den Christlichen Glauben vertreten. Eine sehr schöne und friedliche Folge der ursprünglichen Vorgänge zu Pfingsten.

Wir erleben aber auch – leider – die Kehrseite in Form von Glaubenskriegen, Hass und Unversöhnlichkeit. Da wird die eigene Überzeugung mit Zwang und Gewalt bis zur Ermordung ausgelebt. Wobei es eigentlich gar nicht die eigene Überzeugung ist, sondern die von anderen Christen eingegebenen Worte.
Es scheint wie mit der Atomkraft. Man kann sie für friedliche Zwecke verwenden, Forschung betreiben und der Menschheit viel Gutes tun. Aber eben auch unbeschreibliches Leid damit verbreiten und ganze Bevölkerungen umbringen. 

Montag, 30. Mai 2022

Die Pubertät und ihre Compliance


Wenn ich die Kids erlebe, die in der Pubertät sind, dann denke ich immer an Compliance. Nicht, dass die jungen Menschen etwas mit diesem Ansatz zu tun hätten. Aber sie befolgen einige Aspekte, die man als Erwachsener erst wieder mühsam beigebracht bekommen muss.

Know your customer zum Beispiel. Früher hätte man vielleicht gesagt „Trau, schau wem“, aber dieses altertümliche Sprichwort ist mächtig aus der Mode gekommen. Siebtklässler haben das aber durchaus verinnerlicht, sie wollen ihre Kameraden kennenlernen, stecken ihren Claim ab und überlegen sehr genau, wem sie was erzählen.

Womit wir bei einem anderen Aspekt, dem Need-to-know-Prinzip sind. Eltern erzählt man in diesem Lebensabschnitt nur das Nötigste. Dass der Streber eine Brille trägt und der Klassenlehrer nach einer Operation leicht humpelt. Mit wem ich mich umgebe, meine Freizeit verbringe oder gar mit welchen Mädchen ich mich treffe – das müssen meine Eltern nicht wissen.

Und die Einhaltung von rules. Nicht unbedingt die Regeln, die offiziell und von außen an den Teenager herangetragen werden. Die gilt es im Gegenteil heimlich zu umgehen. Nein, gemeint sind die Befehle, die von einer höheren Ebene, einer für alle anderen Menschen unsichtbaren Instanz kommen. Die anordnen, sich auszutoben, cool zu sein, den Harten zu markieren oder lässig die Fluppe im Mundwinkel hängen zu haben.

Heimlich im Zimmer verschwinden, sich auch bei Sonnenschein einzuschließen ist ein Akt der gelebten Zugriffskontrolle. Was sich ja im Laufe der nächsten Lebensjahre meist relativiert, weil es alleine eben doch nicht so richtig schön ist. Aber was sein muss, das muss sein und im Idealfall steigert es die Beachtung, eine Awareness-Kampagne sozusagen.

Damit ist der Bogen geschlagen, Kinder können auch in diesem Punkt unsere Vorbilder sein, von denen wir in ihrem manchmal etwas anstrengenden Benehmen einiges für den Berufsalltag abschauen können.

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Montag, 23. Mai 2022

NLP ist überall

Neuro Linguistische Programmierung
„Jetzt red‘ dir das nicht ein“, sagt meine Freundin zu mir. Ich denke an meine Mutter, „Da hinten wird es hell“ war so ein Ausdruck, wenn wir im Regen spazieren gingen. Und tatsächlich, wir schöpften Hoffnung, die Stimmung wurde besser und meistens wurde es tatsächlich auch hell, der Regen hörte auf und die Sonne kam heraus.
Die Kraft der Gedanken, könnte man jetzt schmunzeln, aber primär war es eine Beeinflussung der Denkwelt. Denn die Gedanken sind frei, so frei, dass wir sie wie die Drachen am Himmel an langer Schnur halten und führen können.

Also Neuro-linguistische Programmierung (NLP). Schon beim Begriff der Programmierung zuckt man zusammen, klingt es doch nach Manipulation. Aber jede Form der äußeren Impulse bewirkt ja einen Denkprozess, ein Lernen, eine Veränderung. Der Lehrer, der mir eine Aufgabe stellt und die Lösung erläutert führt genauso zu einer Form der Programmierung wie das eigene Auswerten der Reaktion meiner Mitmenschen auf meine Handlungen.

Andererseits wissen wir aber auch, dass viel über die Sprache vermittelt wird. Wir bekommen gerne Nachrichten erzählt, hören zu, was unsere Kollegen zu sagen haben. Und lassen dies in unsere Überlegungen und Urteile eingehen. Ohne Zweifel können wir uns aber auch selbst zuhören, wörtlich oder im übertragenen Sinne. Dann sind wir eben Erzähler und Zuhörer in einer Person, Lehrende und Lernende in Personalunion. Und können uns damit – siehe Abschnitt zwei – selbst programmieren.

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Montag, 16. Mai 2022

Und führe mich nicht in Versuchung

Es geht – um das vorneweg zu betonen – nicht um weibliche Reize, denen ich vielleicht erliege, auch nicht um das Behalten des Geldbeutels, der unter der Theke liegengeblieben ist. Selbst die Herausforderung, Süßigkeiten zu verschmähen, ist heute nicht mein Thema. Vielmehr möchte ich mich den gedanklichen Versuchungen des Alltags widmen.

Da nimmt mich ein Arbeitskollege beiseite, erzählt mir von den schlechten Erfahrungen, die er mit dieser oder jener Person gemacht hat. Oder seiner Einstellung zu einem gewissen Fachbereich. Das hört sich alles ganz plausibel an, ein paar Beispiele unterlegen seine Geschichte. Und dennoch heißt es jetzt, der Versuchung zu widerstehen, diese Ansicht zu übernehmen oder sie – schlimmer noch – unreflektiert weiterzutragen. Wahrheit aus zweiter Hand sozusagen.

Diese Information verselbständigt sich im Laufe der zahlreichen Stationen der Weitergabe. Nach einigen Übergaben ist weder die ursprüngliche Sache noch die Herkunft sauber rekonstruierbar. Stattdessen gibt es nur noch eine (negative) Botschaft, von der niemand weiß, woher sie gekommen ist und jeder nur annimmt, dass sie stimmt.

Selbst bei viel kleineren und unwesentlicheren Punkten nehmen wir gerne mal die Meinung des Berichtenden an. Besonders, wenn wir ihn kennen oder auf den ersten Blick alles einleuchtend erscheint. Was aber nichts heißen muss, denn auch mein ansonsten vertrauenswürdiger Bekannter hat seine Informationen möglicherweise selbst aus dritter Hand (was er mir aber nicht ausdrücklich sagt).

Grundsätzlich ist bei allen Wertungen meiner Zulieferer also Vorsicht geboten. In der Praxis können wir nicht jedes Statement in Frage stellen, jede Aussage (heimlich) anzweifeln oder jedes Wort auf die Goldwaage legen.

Aber eine skeptische Grundhaltung und regelmäßige innere Prüfung, dass man nicht nur weitererzählt, was uns jemand anders ins Ohr geflüstert hat, das ist schon wünschenswert. Genau diese Versuchung des unreflektierten Nachplapperns meine ich, in die ich nicht geführt werden möchte.

Montag, 9. Mai 2022

Jäger des verlorenen Satzes

Da bekomme ich E-Mails, mal ganz ehrlich – man kann sich ja kurz ausdrücken, gerne strukturiert und knapp formulieren. Aber einen Satz zu Ende bringen, möglichst passend zum Anfang der Sentenz, das sollte, na egal.

Munter beginne ich mit der Lektüre der Nachricht, immerhin hat hier jemand an mich gedacht – oder auch nicht, wie sich nach wenigen Worten herausstellt. Als Leser scheine ich ihm egal, bin ihm nicht die Mühe des Kontrolllesens vor dem Absenden wert gewesen. Verschwimmen die Buchstaben vor meinen Augen oder sind sie wirklich eher wirr in die Tastatur eingegeben worden, ich bin mir nicht sicher.

Ich setze zurück zur Anrede, manchmal hilft es, wenn man sich den Text laut vorliest. Errät aus den Lauten dann, was der Autor mitteilen wollte. Oder zu wollen meinte. Die Bandbreite geht von Schreibfehlern und Buchstabendrehern über Fehlgriffe bei Fremdwörtern bis hin zu misslungenen Sprachbildern. Gelegentlich fehlt auch mal ein Wort, ein anderes vielleicht doppelt. Was sich leider nicht ausgleicht.

Überhaupt braucht man ein gerütteltes Maß an Toleranz bei der Übersetzung ins Deutsche. In der Technik würde man von unscharfer Suche sprechen, Erraten des Wortumfeldes und was gemeint sein könnte. Was dann bei den Meistern der Verwirrung noch mit Logikbrüchen und weggelassenen Begründungen zur Zerstörung jeglicher Kausalität führt.
In diesem Moment erwacht der Jäger in mir. Das scheue Wild des Sinnes will aufgespürt und zur Strecke gebracht werden. Ich klettere auf meinen Hochsitz und lasse den Blick über die Wiese der wildgewachsenen Syntax schweifen. Lege behutsam das Fernglas zur Seite und greife zur sprachlichen Langwaffe, um der Semantik einen Blattschuss zu verpassen.

Und siehe da: Halali! Erfolg! Unter Beschuss torkelt der verlorene Satz in den Mittelpunkt, bäumt sich auf und landet mit unüberhörbarem Schnaufen in der Lücke, die ihn bis dahin ersetzen sollte. Zufrieden lehne ich mich zurück, frage mich, wer das waidwunde Gebilde ausweidet und ob ich es zu Markte tragen, in den Tiefkühlschrank des Backlogs bringen oder einfach so liegen lassen soll.